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Thema: Kurzgeschichte: Sonne (2022)

  1. #1

    Kurzgeschichte: Sonne (2022)

    Ich habe eine ältere Kurzgeschichte grundlegend überarbeitet. Deshalb, weil der letzte Post über zehn Jahre alt ist und sich sogar der Titel geändert hat ... voilà.
    Eindrücke und Kritik wären gern gesehen!





    Sonne

    Die Moderatoren des Morgenmagazins lächeln gestellt, und obwohl die digitale Kulisse hinter ihnen eine stilisierte Sonne zeigt, nieselt es vor dem Fenster beharrlich, der Himmel seit Tagen ein merkmalsloses Grau. Der Wetterbericht bestätigt: Kein Sonnenstrahl wird die Wolken durchdringen, stattdessen Regen soweit die Vorhersage reicht. Kramer, in seinen Vierzigern, putzt sich die Zähne, versucht erfolglos, die stetig ergrauenden Haare in Ordnung zu bringen und schlüpft in seinen Mantel.

    ***
    Das Blut zieht sich wie Pizzakäse, als er seinen Finger zurückzieht. Hockend beobachtet er, wie die Flüssigkeit die Eingangstreppe herabrinnt und langsam auch den Bürgersteig einnimmt, als wäre sie ein Teil des endlosen Nieselregens. Er riecht am Blut, steht auf und wischt den Finger schließlich am Inneren seines Mantels ab. Dann betrachtet er das regungslose Gesicht und verinnerlicht, was er sieht. Fotos machen die Kollegen, aber er will den Anblick nicht vergessen, und mehr noch das Gefühl des verlorenen Lebens. Sein Blick gleitet dabei stets zur Brust des Opfers, zu dem klaffenden Loch, dem toten Nichts, das sich darin eingenistet hat. Als er sieht, dass sein Finger noch immer nicht sauber ist, hält er ihn in den Regen. Die Stimmen hinter ihm werden lauter, dann betritt die Spezialistin den Tatort.
    „Frau Dieringer?“, erkundigt sich Kramer.
    Sie nickt, und die Polizisten hinter ihr ziehen sich auf sein Handwedeln hin zurück. Die dünnrandige Brille und der korrekt gebundene blonde Zopf verleihen ihr die Ausstrahlung einer Akademikerin. Sie trägt einen unauffälligen schwarzen Rock, der ihren matt-gelben Rollkragenpullover betont; vor dem Grau des Himmels wirkt er beinah golden. Darauf, in ebenso intensivem Türkis, ein Amulett in der Form eines kleinen Vogels. Jade? Man sieht ihr das Alter an, denkt Kramer, zumal sie offensichtlich nicht das Geringste gegen diesen Eindruck tun will. Auch scheint sie nicht entsetzt im Angesicht der Szenerie, kaum angewidert.
    „Guten Morgen.“
    Ein sanfter Händedruck. Sie stellt ein paar Fragen, aber redet nicht viel um die Situation herum, wirft einen beiläufigen Blick auf das Opfer, geht kurz in die Knie und fährt dann ohne großes Zweifeln mit dem Finger die Wunde ab. Kramer möchte etwas über die Regeln eines Tatorts sagen, lässt es dann aber doch lieber sein.
    Schließlich schlussfolgert sie: „Itztli. Obsidian.“
    „Obsidian?“, wiederholt Kramer mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Klingt primitiv.“
    Sie lächelt mit nur einem Mundwinkel, und er realisiert, dass er sie provoziert hat, vielleicht unterbewusst, vielleicht aus einer Intuition heraus.
    „In den Händen eines fähigen Handwerkers ist es schärfer als jedes Metall. Nicht schwer, so einen Torso zu öffnen oder ein Herz zu extrahieren.“
    Extrahieren, denkt sich Kramer. Später wird er realisieren, dass es dieser Moment war. Er mag es eher vermutet haben, in ihren Bewegungen und ihren Blicken, aber erst in diesem Augenblick ist er sich sicher, dass sie den Mann umgebracht hat, weit ab von allen Beweisen.
    „Ein Ritualmord also“, erklärt sie, als wäre es nicht vollkommen offensichtlich. „Die Menge an Blut ist intentional, die Treppe rein symbolisch. Das Herz natürlich auch.“
    „Das Herz war nicht aufzufinden“, entgegnet Kramer, woraufhin sie nickt.
    „Wahrscheinlich geopfert, in einer süd- oder mesoamerikanischen Praxis. Man opfert das eigene Blut oder das eines anderen. Ihr Täter ist ein Fanatiker, wenn ich eine Vermutung anstellen darf.“
    Er blickt Dieringer in die Augen und hat das Gefühl, sie würde ihm die Wahrheit regelrecht aufdrängen wollen. Dann schaut er noch einmal zurück zur Leiche am Fußende der Treppe, zu dem klaffenden Loch im Körper und zu der Sauerei, die der Tote beim Herunterrollen verursacht hat. Das Blut, vermischt mit dem Regen, verschwindet langsam im Gulli.
    Kramer lädt die Frau ins Restaurant ein.

    ***
    Das Essen ist gewohnt gut.
    „Gesundheit“, sagt er. Sie lächelt über die Stichelei und wiederholt den fremdartigen Namen. Er kann sich nicht erinnern, wie das Gespräch an diesen Punkt gekommen ist, aber er hat auch nicht viel gesagt. Sie erklärt gern, so viel ist deutlich, und sie weiß, wovon sie redet. Eigentlich sind ihm ihre Themen egal, aber er spürt, dass sie noch nicht am Punkt des Monologs angekommen ist.
    Also ermutigt er sie: „Erzählen sie mir die Geschichte von …“
    Nanahuatzin“, hilft sie lächelnd aus.
    „Genau.“
    Sie beginnt mit ihrer aztekischen Legende.

    „Einst versank die Sonne am Horizont, ein weiteres Mal zum letzten Mal.
    Doch Tod schafft Leben, und so war die Zeit gekommen, in der ein Gott sich opfern möge, auf dass die Sonne sich abermals erheben würde, auf dass der Kreis sich schließe. Der Auserwählte – in dieser Geschichte namenlos im Angesicht seiner Scham – hatte das Festmahl genossen, ebenso wie seinen letzten Tag als gefeierter Höchster unter allen Göttern und Göttinnen. Doch nun fürchtete er sich. Obwohl das Opferfeuer brannte, verweigerte ihm sein Körper den rettenden Sprung, so sehr er auch Anlauf nahm. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Die anderen waren entsetzt von seiner beispiellosen Feigheit, mehr noch mit jedem schändlichen Versuch.
    Nicht so Nanahuatzin. Nanahuatzin nahm sich ungefragt ein Herz und sprang in die heiligen Flammen. Sein Körper verging augenblicklich, ward vergessen wie ein Stück Fleisch. Und am nächsten Morgen erhob er sich als Sonne.
    Den feigen Auserwählten überkam die Scham. Auch er sprang nun ins Feuer – doch seine erhabene Chance war vergeben. Die anderen verlachten und verschmähten die brennende Gestalt; eine Göttin ergriff gar einen zubereiteten Hasen aus dem Festmahl und schleuderte ihn in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Der Auserwählte erhob sich am nächsten Morgen nicht, wohl aber in der nächsten Nacht, auf dass Nanahuatzin niemals gezwungen sein würde, sein feiges Antlitz zu ertragen. Er wurde zum Mond.“

    Kramer sieht sie an, während sie eine volle Gabel vegetarischer Pastete nimmt. Sie weicht seinem Blick erst aus, um den grauen Himmel in Augenschein zu nehmen.
    „Ich verstehe“, meint er schließlich, ohne die Gesichtszüge zu verziehen, ohne dass er den Inhalt der Geschichte wirklich verstanden hätte, ohne dass er auch nur eine Ahnung davon hätte, wie diese Götter oder ihre Sonnen funktionieren. Er erkennt in Dieringers Augen, dass sie ihn durchschaut, aber das tut dem Gespräch keinen Abbruch.
    „Bringen sie mich nach Hause?“, fragt sie schließlich, und er nickt.

    ***
    Das erste, was Kramer sieht, als er die Augen öffnet, ist ein hohes Fenster. Die Wolken haben sich nicht gelichtet, sind eher noch dunkler geworden. Wie eine Mauer verhindern sie, dass auch nur ein einziger echter Sonnenstrahl ins Schlafzimmer fällt. Das sanfte Geräusch des stärker werdenden Regens lässt ihn beinah wieder eindösen. Erst dann realisiert er, dass er sich in Dieringers Wohnung befindet, allein. Er bemerkt das Blut überall an seinem nackten Körper, überall auf dem gewaltigen Bett, überall auf dem Laminatboden. Es folgt ein kurzer Anfall von Panik, als er nach Verletzungen sucht. Winzige Federn in Rot und Türkis – er muss an einen Kolibri denken – sind auf der Decke verteilt, aber sein einziges Leiden ist ein Muskelkater. Es kann nicht sein eigenes Blut sein.

    ***
    Der Tatort ist bereits am Vormittag gereinigt. Kramer hat einen Umweg genommen, um seine Dienstwaffe zu holen, aber die Effizienz der Kollegen verstört ihn trotz allem. Die Treppe ist keine Ritualstätte mehr, sondern eine Treppe, die Leiche und das elende Loch in ihrer Brust sind verschwunden. Was bleibt, ist ein Gefühl.
    Aus einer Idee heraus klingelt er bei dem Toten. Der Türöffner surrt und er tritt ein.
    Dieringer sitzt mit offenen Haaren an einem kleinen Küchentisch, der nicht ihr gehört. Sie trägt denselben Rollkragenpullover, aber ihre Narben sind zu erkennen, wenn man darauf achtet. Es ist nicht das erste Mal in seiner Laufbahn, dass Kramer Hinweise für selbstverletzendes Verhalten sucht, aber dieses Mal wirkt es sehr viel klinischer, seltsam frei von schweren Emotionen und abermals verstörend effizient. Einige Wunden sind frisch.
    „Was erhoffst du dir?“, fragt er. Sie verzieht den Mund, genervt, vielleicht ein wenig belustigt.
    „Ich habe es erklärt, im Zuge des Rituals. Du musst besser zuhören.“
    Er weiß, dass er tatsächlich ein schlechter Zuhörer sein kann, aber vor allem verzichtet er auf eine Antwort, weil er sich unsicher ist, welchen Teil des vorangegangenen Tages sie als „Ritual“ bezeichnet. Es kommt zu einer peinlichen Stille, bis sie aufsteht und erfolglos versucht, die fremde Kaffeemaschine zu bedienen.
    „Hilfst du mir?“, fragt sie, ohne ihn anzusehen. „Noch ein Mal?“
    „Du gehst nicht davon aus, dass ich dich festnehme.“
    „Die Sonne geht unter. Ich weiß nicht, wo ...“
    Sie verstummt und steht reglos in der Küche. Kramers professionelle Achtsamkeit wandert unwillkürlich zum Messerblock in ihrer Reichweite.
    Sie jedoch flüstert nur: „Er war nicht einmal feige. Ich dachte, er hat es verstanden, aber selbst das ... Ich weiß nicht, bei wem ich anfangen soll. Wie soll sich jemand ein Herz nehmen, wenn er nicht einmal an die Sonne glaubt?“
    Ihre Stimme ist brüchig geworden. Mit leicht zitternden Händen nimmt sie ihre Haare, legt sie nach vorn über die Schulter und senkt den Kopf ein wenig.
    Kramer denkt, dass er kein echtes Geständnis von ihr bekommen wird, nicht vor einem zweiten Mord. Er weiß aber auch, dass dieser Gedanke eine Ausrede ist, dass es kein Problem wäre, ihr mit Untersuchungshaft, Bluttests und ähnlichem das eine oder andere nachzuweisen, oder sie zumindest zeitweise an einem weiteren Mord zu hindern. Und letztlich weiß er, dass sie es genauso geplant hat, dass sie ihn ausnutzt, dass eine Welt voller Probleme auf ihn zukommt. Und dass selbst das nicht die ganze Geschichte ist.
    Trotzdem steht er lange in der Küche, bevor er ihr in den Hinterkopf schießt. Er ist froh, dass er ihr Gesicht dabei nicht sehen muss.

    ***
    Am nächsten Morgen verzichtet er auf den Wetterbericht. Stattdessen lässt er sich von der Sonne blenden, die am blauen Himmel steht.

  2. #2
    Ich kam bisher leider nicht zum Lesen, habe das aber auf dem Schirm. Will update soon! (Hoffentlich.)

  3. #3
    Alter Schwede, die Wendung hat es in sich. Der Ermittler und die Spezialistin schenken sich offensichtlich nichts an Verrücktheit und kaputtem Charakter.
    Hatte es damals auch schon gelesen, meine ich zumindest.
    Wirkt für das was passiert etwas arg straff erzählt, daraus könntest du locker einen etwas längeren Plot spinnen. Hat mir gefallen.

  4. #4
    Ich denke, es liegt daran, dass ich die Geschichte jetzt vor dem Schlafen etwas hastig gelesen habe, aber trotz einmaligem Lesen und mehrerem Überfliegen danach habe ich sie denke ich nicht verstanden. Auch nicht was die Nanahuatzin-Geschichte damit zu tun hat. Oh well.

    Schreiberisch habe ich mich sehr gut abgeholt gefühlt, aber ich weiß ja, dass du damit schon lange keine Probleme mehr hast. Ich mag es, wie du kreative Wege gefunden hast, einfache Interaktionen zu beschreiben, das bereitet mir mitunter die größte Mühe. Deine Dialoge haben einen guten Fluss. Einige Sätze musste ich mehrmals lesen weil ich sie als zu verkopft wahrgenommen habe, aber das mag auch nur an meiner Hast gelegen haben.

    Das mit dem Pacing stimmt, daraus könnte man sicher mehr machen, aber gerade der Abschluss ist gelungen, weil du genau einen Satz brauchst, um eine unerwartete Wendung herbeizuführen. Respekt! Obwohl ich es nicht duchschaut habe, sehe ich meine investierte Zeit als profitabel an.

  5. #5
    Danke euch! ^__^

    Die Grundidee ist, dass Dieringer sich selbst opfern möchte (wie Nanahuatzin vor ihr), weil sie sonst niemanden findet, der willens ist, zur nächsten Sonne zu werden. Dafür nutzt sie Kramer aus, der sie zwar durchschaut, letztlich aber trotzdem "mitspielt", aus einem vagen Verständnis heraus. Am Ende bleibt offen, ob das Ritual funktioniert hat oder ob Dieringer verrückt und der Wetterbericht einfach nur chronisch unzuverlässig war.

    Zitat Zitat
    Wirkt für das was passiert etwas arg straff erzählt, daraus könntest du locker einen etwas längeren Plot spinnen.
    Den Gedanken habe ich auch schon andernorts mitgenommen! Ich könnte Kramers Innenwelt auf jeden Fall ein bisschen mehr beleuchten, damit man seine Handlungen besser nachvollziehen kann. Und man kööönnte natürlich eine richtige Krimi-Geschichte mit seicht übernatürlichem Touch draus machen, aber irgendwie mag ich auch das Fokussierte. Hm!

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