Sehr coole und interessante Beiträge, vielen Dank für Eure Einschätzungen und Sichtweisen.
Ich möchte noch einen Aspekt ergänzen, warum ich glaube, dass solche Themen immer so hitzig und emotional diskutiert werden, muss hierfür jedoch etwas ausholen:
Zunächst einmal denke ich, dass wir hier alle übereinstimmen, wenn wir sagen: Diversität und Toleranz ist etwas Positives. Niemandem wird dadurch etwas weggenommen, sondern es werden ggf. auch für kleinere Gruppen Möglichkeiten geschaffen, sich mit virtuellen Avataren zu identifizieren. Gleichzeitig gibt es andersartigen Gruppen die Möglichkeit, sich in andere Sichtweisen hineinzuversetzen.
Wenn wir von „früher“ sprechen (und oft haben wir zu „früher“ eine verklärte Sichtweise), dann war es ja schon ein Novum, wenn ein Spiel eine weibliche Protagonistin hatte. Das waren dann Charaktere wie Samus, Lara etc.
Heutzutage ist es normal, dass auch weibliche Personen die Hauptrollen in unseren virtuellen Medien übernehmen und das Frauenbild hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Von einer passiven Rolle (im realen Leben: Zuhause bleiben, Kinder hüten, Haushalt während der Mann raus geht und die Welt verändert; im Film/Videospiel die holde Maid in Not, die errettet werden muss) hin zu aktiven Rollen (im realen Leben: Karrierefrauen, Aktivistinnen, Politikerinnen etc.; im Film/Videospiel starke Protagonistinnen, die schießen, klettern, kämpfen und die Welt retten).
Sowie ein Sonderfall zur Regel wird, lässt sich natürlich auch beobachten, ob bestimmte Muster erkennbar sind und ich denke schon, dass mit der Einführung von mehr weiblichen Figuren in aktiven Rollen auch damals schon eine gewisse Sexualisierung stattgefunden hat. Als Beispiele fallen mir da die Dark Queen von den Battletoads ein, Samus wurde auch zum Ende von Metroid bereits kurvig und bei Super Metroid in knapper Bekleidung dargestellt, Lara hatte ihre optische Darstellung quasi als USP (und ich würde behaupten, dies war Mitgrund für die Popularität der Reihe), Aya Brea aus Parasite Eve, Tifa aus Final Fantasy VII, die weiblichen Protagonistinnen in Fighting Games etc. – alle hatten eine recht freizügige Gestaltung, athletische und kurvenreiche Körper sowie eine Darstellung als „Kämpferinnen“ zum gemeinsamen Nenner.
Jetzt haben wir im Jahr 2021 aber eine andere Lebensumwelt als in den frühen 90er Jahren und viele Themen werden von der Gesellschaft anders aufgenommen.
Als Beispiele:
Homosexualität ist deutlich „mainstreamtauglicher“ in den Köpfen der meisten Menschen verankert, bzw. wird in den aufgeklärten Gesellschaften als ebenso normal angesehen wie Heterosexualität.
Es gibt eine viel stärkere interkulturelle Verzahnung. Geschlechtliche Diversität findet deutlich mehr Akzeptanz bzw. es besteht ein Bewusstsein hierfür. Generell wird mehr auf „Gleichberechtigung“ acht gegen. Das begegnet uns beispielsweise auch im professionellen Umfeld, wo Stellenausschreibungen mit (w/m/d) veröffentlicht werden, wo es Gleichstellungsbeauftragte in Organisationen als sozialpartnerschaftliches Gremium gibt, es wird aktiv mit „Diversität“ im Rahmen des Employer Brandings geworben usw.
Meiner Beobachtung nach – und hier lässt sich das Ganze auf Charakterdesign übertragen – werden diese Themen u.a. dann von vielen Personen negativ aufgenommen, wenn die Rezipienten das Gefühl bekommen, dass diese Themen überadressiert werden bzw. zu reinem Selbstzweck verkommen.
Ich möchte hier erneut eine Parallele ziehen:
Eine Gleichstellungsbeauftragte hat im Berufskontext die Aufgabe, eine überwachende Funktion einzunehmen, so dass bei personalrelevanten Themen keine Menschen aufgrund von Geschlecht benachteiligt werden. Zwar gibt es grdsl. bei einer Frau mehr Anlass für eine Benachteiligung (statistisch gesehen sind immer noch weniger Frauen in Führungsfunktionen, Frauen sind nach wie vor häufiger und mehr in Kinderbetreuung eingebunden etc.) – und das werden auch viele Männer so sehen – allerdings löst dieses Amt genau dann Unmut aus, wenn die „Rechte“ der Frauen übervertreten werden und nicht mehr Gleichheit angepeilt wird, sondern eine prinzipielle Bevorzugung von Frauen. Und das stößt sowohl Männern (natürlich) als auch einigen Frauen sauer auf, die sich in ihrer gesellschaftlichen Rolle diskreditiert fühlen, weil man ihnen das Gefühl gibt, Karriere sei nur mit einer fürsprechenden Person möglich.
Ähnlich gestaltet es sich mit Diversitäts-Themen in Videospielen: Wenn diese – subjektiv empfunden – immer häufiger adressiert werden, reiben sich auch bestimmte Personen und Gruppen früher oder später daran. Das beobachte ich zumindest in letzter Zeit gefühlt häufiger bei TripleA Produktionen, die Diversität aufgreifen. Ob das jetzt bei Horizon in Form von körperlichen Schönheitsidealen der Fall sein mag (wobei ich das ehrlicherweise nicht erkenne bzw. Aloy als „normal“ aussehend betrachten würde) oder auf mehreren Ebenen wie beispielsweise dem berühmten The Last of Us 2, wo sowohl geschlechtliche Diversität oder sexuelle Orientierung (beiläufig) thematisiert werden und Charakter auch – für das Medium – eher unkonventionell designt werden. Ich denke hier an die androgyne Erscheinung von Elly mit ihren weit geschnittenen Hemden und der relativ drahtigen Statur oder auch Abby, die extrem trainiert ist. Bei Spielen, die eine breite Masse ansprechen, werden diese Themen eben schneller entdeckt, vehementer publiziert und von einer viel breiteren Masse wahrgenommen. Und je breiter die Masse an Rezipienten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass auch Personen adressiert werden, die sich sehr schnell oder sehr radikal an Andersartigkeit reiben. Das mag dann unterschiedliche Ursachen haben – von extremen Ansichten, über optisches Missfallen, der Engstirnigkeit, dass Medien nur die eigenen Vorlieben zu bedienen haben oder die eigenen Vorlieben universell gültig sind etc. D.h. es gibt einfach ein viel größeres Pulverfass. Und das zeigt sich gerade im Zeitalter des Internets, wo Dinge schnell mal „viral“ gehen, in Form von Rattenschwänzen, wie jetzt bei dem Design von Aloy und einem einzigen, verbitterten Twitter-Post, der darüber einen Shitstorm losbricht. Da kommen dann alle möglichen Akteure verschiedenen Colours hinzu, die denken, alle Medien verfolgen jetzt eine „Agenda“ weil hier und da mal Protagonistinnen lesbisch sind oder kein Doppel-D Körbchen haben oder die das Gefühl haben, man nehme ihnen ihre etablierten Standards weg („früher war es doch gut, warum ist es jetzt anders“). Ich denke, dass besonders durch selektive Wahrnehmung hier ein ähnliches Gefühl entsteht, wie bei meiner Analogie im Job mit der Gleichstellungsbeauftragten. Bestimmte Gruppen sehen eine „Überthematisierung“ oder die Gefahr, dass man ihnen etwas wegnimmt. Etablierte Charakterdesigns. Gewohnte Darstellung der Frau (oder des Mannes).
Das findet aber meist nur in der eigenen geschaffenen Bubble statt. In der eigenen Organisation oder in den letzten 2 von 10 Triple A spielen, die man konsumiert hat (oder im ungünstigeren Fall: In 2 von 2 Triple A Spielen, die man konsumiert hat). Dadurch wird die Sensibilität für diese Thematiken erhöht und jedes Mal, wenn etwas in dieses neue Muster fällt, ist es für diese Personen sehr auffällig – wie wenn man gezielt nach roten Autos Ausschau hält. Und daraus entstehen Gruppen, die eine Agenda sehen und diese negativ adressieren, während auf der anderen Seite Gruppen entstehen, die übersensibel auf vermeintliche Angriffe auf solche Themen werden. Ich glaube, dass Eskalationen meistens auf selektiver Wahrnehmung fußen und oft gar nicht der Versuch besteht, andere Sichtweisen kennenzulernen, sondern dass man jeden mit einer anderen Auffassung in eine bestimmte Schublade einordnen möchte.
Wenn ich mir die letzten Jahre anschaue, dann gibt es viele (und ehrlicherweise mehr denn je) Charakterdesigns, wie aus den 90er Jahren. Und m.E. sollte man genau das unter Diversität verstehen: Ich kann ein Nier Automata als Spiel und eine 2B als Design schätzen. Es gibt Frauen mit solchen Proportionen. Und ich kenne Frauen, die gerne so aussehen und dennoch einen individuellen und starken Charakter haben und sich auch über diesen definieren. Ich kann auch ein The Last of Us 2 als Spiel schätzen und eine Abby als Design und als Person. Und auch wenn ich ihr Design nicht für realistisch halte, habe ich es im Rahmen des Spiels nicht in Frage gestellt, auch wenn ich vorher Bedenken hierzu hatte. Und ich habe es insbesondere nicht in Frage gestellt, weil ihr Design während des Spielens für mich in den Hintergrund gerückt ist und durch die dargestellte Persönlichkeit und den Schatten gestellt worden ist, die Abby für mich zu einer nachvollziehbaren und liebenswerten Figur gemacht haben.
Es gibt nach wie vor Fighting Games, die sehr hohen Wert auf freizügige Charaktere legen, während andere Fighting Games (MK11) von dieser Darstellung abgewichen ist. Es gibt Autoren, die offenkundig zugeben, dass sie Frauen sexualisiert designen, weil sie es gut finden (Yoko Taro – 2B) während andere Autoren versuchen, dies mit lachhaften Geschichten zu verargumentieren (Hideo Kojima – Quiet).
Schlussendlich denke ich, dass wenn wir von „Diversität“ sprechen, gerade im Gaming Bereich dies auf allen Ebenen zu finden ist, da die Branche schlicht viel viel größer ist als vor einigen Jahren. Es gibt nach wie vor (und mehr denn je) aufreizende Charakter Designs, aber es gibt auch inzwischen mehr Bodenständigkeit. Und dann gibt es Personen, die sich an dem einen oder anderen sehr reiben und dies sehr lautstark kommunizieren, da sie ihrer selektiven Wahrnehmung anheim fallen. Und jeder Verfechter der „Gegenseite“ bestätigt das Weltbild dieser Personen, dass man da etwas Großem auf der Spur ist und dagegen ankämpfen muss.
Sorry für den Wall of Text ^^ Ich hoffe, ich konnte meine Gedanken noch einigermaßen strukturiert darlegen.