Disco Elysium

Huh, Disco Elysium ist ein echtes, real existierendes Videospiel, nicht wahr? Es ist immer krass, wenn man praktisch mit maximalen (oder maximal übertriebenen?) Erwartungen an ein Spiel herangeht, weil alles daran und darüber großartig und irgendwie faszinierend klingt ... und dann werden diese Erwartungen übertroffen! :3 Also ja, das hier ist definitiv so ein Fall, ein Instant-Klassiker, der sich problemlos neben seine Idole stellen kann und sie streckenweise weit hinter sich zurücklässt.

Wir haben zu zweit gespielt, was durch die wahnsinnig gute Vertonung des Final Cut problemlos funktioniert. Man knobelt bei einigen Entscheidungen doch schon ernsthaft herum, genau wie am zentralen Mysterium, und jede Uneinigkeit ist ein großer Spaß. ^^



Eigentlich ist Disco Elysium aber ein ganz klassischer Kriminalfall, den man als Polizist lösen soll. Was genau überrascht also daran?
  • Das Setting. Spoiler für die allerersten Spielstunden, I guess!
    Elysium hier ist nicht die reale Welt, keineswegs: Es ist ein low level mythisches Setting, mit Fantasy-Anklängen und einer ganz eigenen, detaillierten Geographie und Geschichte. Aber zur selben Zeit ist es ein wahnsinnig europäisches Setting, so europäisch, dass es sich für Amerikaner exotisch anfühlen dürfte. (Die Leute sprechen FRANZÖSISCH!) Und in diesem Sinne versucht es auch gar nicht, sich allzu aggressiv von der Realität oder der Gegenwart abzusetzen; trotz der rabiaten Unterschiede ist einem der grundlegende Disco Beat nur allzu bekannt. So gibt es bspw. Kommunisten, genau wie in der Realität ... zumindest bis man tiefer in ihre Theorie eintaucht und feststellt, dass die hiesige Ideologie ein paar wirklich wilde, übernatürliche Aspekte umfasst, die auch den realen Kommunismus in ein anderes Licht tauchen können. Und obwohl die Momente, in denen solche eigenen Ideen zum Vorschein kommen, zweifellos die einschneidendsten sind, ist es auch das Bekannte, das Gegenwärtige, durch das dieses Spiel so glaubwürdig, lebendig und einem letztlich vertraut werden kann.
    Das "Setting" meint aber nicht nur die Welt, sondern auch den urbanen Ausschnitt dieser Welt, den das Spiel zeigt: Martinaise ist nur ein kleiner Stadtteil einer Stadt eines Land eines Kontinents (?), und obwohl auch andere Stadtteile, Städte, Länder und Kontinente eine Rolle spielen, sieht man hier NICHT MAL ganz Martinaise. Eigentlich besteht Disco Elysium aus ein paar Straßenzügen, die man am Ende wie die eigene Westentasche kennt. Das passt 100% zum Genre, führt aber zusammen mit dem massiven World Building auch zu einem runden "Mikro-Makro-Gefühl" für diese Welt; vor allem da der Kriminalfall untrennbar mit ihrer Geschichte & Politik verbunden ist.

  • Das Gameplay. In den Credits geht der erste Dank an Chris Avellone, und ja, Disco Elysium weiß sehr genau, wie viel es einem Planescape Torment (und natürlich dem ganzen restlichen Genre) verdankt. Das erkennt man nicht nur am grundlegenden Gameplay-Loop mit Erkundungen, Freiheiten, Entscheidungen, endlosen Dialogen und ebenso endlosen Menü-Spielereien, sondern auch an dem, was das Spiel faszinierend findet: Sein Setting, seine Charaktere, seine Geheimnisse und die Rolle des Spieler-Avatars, der möglichst individualisier- und identifizierbar mit diesen Dingen interagiert. Disco Elysium lernt aber auch aus diesem alten, oftmals frustrierenden Genre: Es ist größtenteils angenehm zu spielen, es ist transparent mit dem Zufall und es individualisiert nur dann, wenn es mit den Konsequenzen umgehen kann. Zwar gibt es Momente, in denen man sich eine Dialogoption mehr wünscht, aber dafür hat man auch nur selten das Gefühl, das man von einem Flussdiagramm verarscht wird. Vor ALLEM aber hat dieses Spiel endlich mal die Eier, das Kampfsystem aus dem Fenster zu werfen, das die anderen Genre-Vertreter seit Jahrzehnten herunterzieht. Und die Charakterwerte, die früher zuerst für die Kämpfe und erst danach für alles andere standen, reden diesmal sogar mit dir (wortwörtlich), so viel Einfluss haben sie auf die Figur und das Spiel. Chapeau.

  • Die Weltsicht. Falls es noch nicht deutlich geworden ist, hier noch einmal explizit: Disco Elysium ist politisch as fuck. Es hat eine Sicht auf die Welt und weiß um die Wirkung dieser Sicht. Besagte Sicht ist auch nicht auf einem Kindergarten-Level, den man mit einem Wort umschreiben sollte ("links", "Nazi", "liberal", "furry" ... you know), aber es ist nichtsdestotrotz eine Sicht, die Dinge beobachtet und damit automatisch kommentiert. Als Beispiel a) erfindet Disco Elysium sein eigenes "N-Wort", b) legt es natürlich den schmerzhaft unterhaltsamen Rassisten, hin und wieder aber auch mal einem grundlegend sympathischen Charakter in den Mund, und c) gibt sogar dem Spielercharakter die Option, als flaming racist mit diesem K-Wort auf lockeren Lippen durch das Spiel zu gehen, ohne dass es allzu garstige Konsequenzen in der Story haben müsste. Und wenn es dann IMMER NOCH keine ernst zu nehmenden Kontroversen um dieses Spiel gibt (abgesehen vielleicht von diesem unglaublich lustigen Moment! xD), weiß man, dass es eine Menge richtig gemacht hat.
    Darüber hinaus weiß Disco Elysium aber auch, dass es ein Videospiel auf einem kapitalistischen Markt ist, dass es ein Rollenspiel in der Tradition von crpgs und Dungeons & Dragons ist, dass es von amerikanischen Police Procedurals beeinflusst und in der Tradition von osteuropäischer Literatur geschrieben wurde, von einem Autor*innenteam mit einer Menge Baggage, und dass all diese Dinge ihre eigenen Umstände mitbringen. Man könnte sagen, es ist oftmals selbstkritisch und "meta", aber im allerbesten Sinne. Hin und wieder bricht mir die reale Welt etwas zu stumpf ins Spiel (Bei Gott, es enthält direkte Scooter-Zitate! o_O), aber im Großen und Ganzen trifft es einen hervorragenden, tiefgehenden Mittelweg zwischen ehrlich und ironisch.
    Abschließend umfasst die Weltsicht aber natürlich immer auch ein Menschenbild, und hier bin ich froh berichten zu dürfen, dass die Entwickler von ZA/UM keine zynischen Arschlöcher sind. Disco Elysium ist düster und zutiefst fatalistisch, und OH GOTT ist es erwachsen, weit über Blut und Sex hinausgehend, aber es verliert dabei niemals seinen grundlegenden Respekt, seine Empathie mit dem Menschen. Die Charaktere sind facettenreich und haben eine nachvollziehbare Innenwelt (sogar die Kapitalisten!), und insgesamt spürt man einfach eine Menge Hoffnung für die Zukunft, selbst zwischen den bissigsten Dialogzeilen.

  • Das Writing. Ja puh. Von dem Hauptautor hat man außerhalb Estlands noch nie was gehört, aber er hat es so richtig drauf. Das Spiel holt BEGRIFFE raus, ey ... Vor allem aber hat es eine ganz eigene literarische Stimme und erzählt zur selben Zeit in vielen verschiedenen literarischen Stimmen, was ungemein vorteilhaft ist, wenn lebendige Charaktere ein großer Reiz sein sollen. Das hier ist tatsächlich wieder so ein Punkt, in dem Disco Elysium selbst ein Planescape Torment problemlos überflügelt. Es gibt praktisch keine Dialogzeile, die schlecht oder uninteressant ist, es sei denn natürlich, sie soll es sein (Encyclopedia-Skill, looking at you). Man kriegt in jedem Gespräch einen neuen Eindruck seines Gegenübers, entwickelt sofort eine Meinung und wirft sie oft innerhalb von Sekunden über den Haufen. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich denke, letztlich ich habe selten eine so punktgenaue Verwendung von Sprache erlebt. Im Gegensatz zu den genannten Vettern langweilt man sich hier auch einfach deutlich weniger in den Dialogen; ich vermute, sie sind besser lektoriert, um trotz der Textwüsten immer auf einen Punkt hinzuarbeiten. Außerdem sind sie wahnsinnig lustig, oft sogar laut-lachend-lustig!
    Das Glanzlicht sind die 20 Skills des Hauptcharakters, die als "Engel-Dämonen auf der Schulter" die Geschehnisse einfärben, je nach Zahlenwert mehr oder weniger aggressiv, und natürlich zunehmend wahnsinnig. Dazu kommen ein paar weitere, nun ja, "Persönlichkeiten" wie das Ancient Lizard Brain und die Horrific Necktie des Hauptcharakters. (Jup.) Sowas ist schwierig, wenn es nicht prätentiös oder anstrengend sein soll (Numenera Torment bspw. versucht es mit deutlich weniger Erfolg, und dabei hat es nicht mal ein Viertel dieser "Stimmen"!), aber Disco Elysium legt nicht nur problemlos neue Maßstäbe, es erschafft auch zahllose Momente, die augenblicklich hängenbleiben. Wir haben anfangs bspw. oft "Okay, Inland Empire!" gerufen, und dann später zähneknirrschend realisiert, dass dieser Skill vielleicht doch nicht völlig wahnsinnig ist. So baut sich das Spiel schon allein durch das Writing des Hauptcharakters und ein ABARTIG gutes Voice Acting durch die Bank weg zwei krasse Alleinstellungsmerkmale auf.
    Beides trägt übrigens auch zum Krimi-Genre bei: Man lernt schnell, die ehrlichen Momente in Cunos degenierter Assi-Sprache zu erkennen, man zweifelt an Klaasjes Ehrlichkeit, selbst in den ehrlichen Emotionen ihrer rauchigen Stimme, man versteht die Theorien des Visual Calculus Skills und man lernt den verdreht manipulativen Duktus von Evrart und Joyce zu respektieren, in ihrer politischen Überzeugung. Und man versteht sogar den Hauptcharakter, und dass er weit mehr ist als nur ein leerer Spieler-Avatar.
Aber am Ende geht es natürlich nicht um diese einzelnen Punkte, sondern um das Gesamtbild. Alles an Disco Elysium passt und klickt, und das obwohl hier eine WILDE Mischung an unerschiedlichen Dingen zusammenkommt. Vom Grafikstil (!) und der Musik (!!) haben wir dabei noch gar nicht geredet. Ich mag auch, dass das Spiel nur halb so groß ist wie im Genre üblich, was es total fokussiert. Selbst die nebensächlicheren Nebenquests bringen immer ein Stück Geschichte, ein Stück Setting ins Spiel, und nur durch diese ganzen Einzelteile ergibt sich ein solcher Klassiker. Nichts scheint überflüssig, nicht mal (und gerade nicht!) der Scooter-Charakter.



Noch ein Punkt: Das Ende der Story ist interessant. Die letzte große Offenbarung funktioniert nur, weil alles in Disco Elysium darauf hinarbeitet, in einem ganz großen Rahmen, denn in einem schlechteren Medium könnte das so RICHTIG nach hinten losgehen. So passt es allerdings, und das hat mich ein bisschen überrascht. Der Abschluss danach ist fast schon ... bodenständig? Klar, es kann politische Konsequenzen geben, aber nach dem ganzen Mindfuck des Hauptcharakters erwartet man eigentlich noch mal irgendwas anderes. Ich habe auch das Gefühl, die letzte "übernatürliche" Begegnung im Schilf soll genau dieses Gefühl abfangen. Was sie zumindest teilweise tut! Da auch die Rolle der Polizei INTERESSANT ist, in einem so politischen Spiel ... Ich bin gespannt auf eine Fortsetzung. Die kann das Ganze noch mal in ganz andere Sphären heben, sie hat aber auch große Fußstapfen zu füllen, und dieses Ende wird es nicht einfach machen.

Also ja, was gibt es noch zu sagen, außer einer Menge? Instant-Klassiker und ein absolutes Must-Play. Man muss sich, wie immer bei dem Genre, auf ein interaktives Buch einstellen, aber ich würde sagen, Disco Elysium ist die bisher zugänglichste Variante, einfach weil es auch so gottverdammt gut ist.

In diesem Sinne danke auch ich Marx und Engels für die politische Bildung!

20 von 20 ... Skills, auf die man auch dann noch hören sollte, wenn sie mit steigender Punktzahl völlig durchdrehen.
1 von 2 ... Good cops, denn Kim Kitsuragi ist ein Cinnamon Bun ohnegleichen.
2 von 2 ... Good cops in unserem Run. Zeitgleich aber auch Hobocop, Gay Cop, Communist Cop, Art Cop, Cryptid Cop, und nicht zu vergessen, Disco Cop. HARD CORE!