Ich habe diesen Kritikpunkt vor dem Spielen sehr oft gehört und habe daher auch beim Spielen viel darüber nachgedacht.
Erstmal muss man sicherlich akzeptieren, dass sowohl die Grundidee – eine Menge scheinbar "irrelevanter" Videos, aufgeteilt in zwei Seiten einer Konversation, mit langen Stillephasen – als auch die Funktionalität des Video Players zu 100% bewusste Entscheidungen sind. Alles andere wäre gerade nach Her Story, wo man ja wild in den Videos hin- und herspringen konnte, absolut albern, zumal man es relativ leicht hätte nachpatchen können. Es gibt inzwischen ja auch schon recht lange eine entsprechende Fan-Mod.
Das macht diese Entscheidungen natürlich noch nicht gut oder richtig, aber es muss den Fokus einer wirklich ernst zu nehmender Kritik in die folgende Richtung schieben: War es das wirklich wert?

Ich verstehe die Intention hinter diesen Entscheidungen so:
Aber erstmal: Es KÖNNTE gut sein, dass so viel "Konzeptbesprechung" für manchen schon in Richtung Spoiler geht. Explizite Spoiler gibt es aber nicht!

1.
Telling Lies legt den Fokus auf die Beziehungen der Charaktere, wie sich diese Beziehungen entwickeln, und wie die Charaktere mit der sich entfaltenden Realität und den beteiligten Lügen umgehen. Dabei geht es, im Gegensatz zu Her Story, nicht um die Frage, was eine einzelne Frau erzählt, sondern um die Frage, wie die einzelnen Charaktere aufeinander und auf die Taten der anderen reagieren. Das rechtfertigt für mich eigentlich schon den Kunstgriff, die Videos in zwei Seiten aufzuteilen: Es ist etwas komplett anderes, nur eine Aktion oder Reaktion zu sehen, sich komplett auf die kleinen Emotionen und Handlungen eines einzelnen Gesprächsteilnehmers fokussieren zu müssen. Das würde man sonst NIE machen, und es ist streckenweise absolut faszinierend. Und klar, es gibt dann halt auch mal Videos, in denen ein Charakter fünf Minuten lang relativ regungslos irgendwo herumsitzt oder herumliegt ... aber das bringt uns zu Punkt 2.

2.
Telling Lies macht KEINEN Hehl daraus, wie voyeuristisch das Ganze ist. Ich habe mich regelmäßig uuunglaublich schlecht dabei gefühlt, den Leuten bei den alltäglichsten Dingen zuzugucken (vor allem der Tochter, ey!), und genau das ist natürlich gewollt. ... und nicht zuletzt durch die NSA/Whistleblower-Angle auch schon wieder ein Statement für sich! Nur durch diesen Einblick in das – teilweise sehr triviale – Leben, in dem selbst das Zurückspulen noch ereignislos wirkt, wird es überhaupt erst möglich, einen so authentischen Eindruck von scheinbar echten Gefühlen, Entscheidungen und Veränderungen zu kriegen, die sich über die Dauer der Ereignisse abspielen. Oder genauer: Einen Eindruck, den man gar nicht erst haben sollte, weil er unglaublich privat ist. Telling Lies fühlt sich nur sehr selten wie ein Film an, und selbst (wortwörtlich) per Hand/Maus spulen zu müssen, hämmert das noch mal richtig rein. Während Her Story eine "offizielle" Aufnahme eines Verhörs war, dringt man hier tief in die Privatsphäre fremder Personen ein, und das soll man bitte auch fühlen.

Daher auch noch mal: Fette Kudos an alle Schauspieler*innen! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie viel schwieriger dieser Job ist, wenn die Kamera minutenlang ohne irgendwelche Schnitte oder Fokuswechsel auf dem eigenen Gesicht hängt. o__O''

Also zurück zur wirklich interessanten Frage, was die Kritik des Spiels angeht: War es eine gute Entscheidung, Telling Lies zugunsten seines narrativen Grundkonzepts weniger spaßig und benutzerfreundlich zu gestalten? Ich denke schon, aber ich denke auch, dass Sam Barlow es vielleicht ein bisschen übertrieben hat. Es war für mich auf keinen Fall so lachhaft wie in Shadow of the Colossus, wo sich Konzept und Gameplay komplett widersprechen, und auch nicht so nervig wie bspw. in Cibele, wo mich die bewusste Langeweile des Gameplays so ziemlich vom Gesamtkonzept abgelenkt hat, aber es fühlt sich trotz allem ein wenig wie der Versuch an, mit einer Bazooka auf einen Spatzen zu schießen. (Ich würde es vielleicht am ehesten mit LISA vergleichen, was das angeht.) Dann wiederum: Ich bin mir nicht ganz sicher, was er hätte anders machen sollen ...? Zweiseitige Videos hätten dieses Konzept definitiv zerstört, ein "Springen" durch die Videos wahrscheinlich auch. Hm, vielleicht wäre es schon viel wert gewesen, das Spulen mit der Zeit noch einmal zu verdoppeln oder zu vervierfachen, damit die Leerstellen nicht ganz so aufdringlich sind. Aber dann wären einem wieder Details entgangen, über die man hinwegspult. Hmmm. Na ja, meine Kernaussage bleibt: Ich hatte kein wirkliches Problem damit, weil das Gesamtbild für mich durchaus passt! Ich meine, der Spatz ist immer noch weg, wenn man ihn mit einer Bazooka beschießt.

Ach so, und abseits aller Kritik, wenn einen der ganze Firlefanz stört, man aber trotzdem ernsthaft interessiert an dem Spiel ist: Zwei gute Möglichkeiten! 1. Mod. 2. Einfach ne Zeitschrift danebenlegen, während man spult. Stört nicht mal wirklich die Immersion; die Protagonistin hätte es mit Sicherheit auch getan.



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Hah, ja, das zeigen einem auch die "Mixed" Reviews bei Steam. Das passiert ja sonst selten, wenn der Port nicht gerade Crap ist oder Reviewbombing betrieben wird, wenn das Spiel was taugt *g*
Für mich gibt es da (abseits von aktuellen Ereignissen um das Spiel herum) immer nur zwei Erklärungen und zwei entsprechende Reaktionen:
1. Das Spiel ist wirklich schlecht gemacht ... dann interessiert es mich tendenziell nicht mehr.
2. Das Spiel ist mindestens ordentlich gemacht, aber gefällt vielen Leuten trotz allem nicht ... dann, und da bin ich ganz ehrlich, weckt das mein Interesse mehr als es ein "Overwhelmingly Positive" jemals könnte!