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Ich will jetzt noch mal anmerken, dass manche der schlechteren Nachrichten, die Du aus dem Spiel entnimmst, vermutlich ungewollt und nicht die Intention der Entwickler waren.
Mit Sicherheit! Ich bin mir zu 100% sicher, dass Dontnod ein komplett progressives Spiel machen wollten. Und das ist in meinen Augen auch was wert – oder andersrum, wenn sie Latinos wirklich sagen wollten "Friss oder stirb!", wären sie definitiv unten durch bei mir. xD' Am Ende finde ich die tatsächliche Wirkung nur immer wichtiger, weil sie eben ... ja, sie wirkt halt. ^^ Aber das kann man auch voneinander trennen: Ich bin jetzt nicht böse auf Dontnod oder sowas, und ich freue mich bspw. genauso sehr auf Tell Me Why wie davor, aber es ist halt schade für LiS2.

Ich will noch mal ein bisschen weg von Perspektiven, Meinungen und persönlichen Erfahrungen. Da können wir dann am Ende wieder hingehen!

Was ich als (soweit möglich ...) objektiv problematisch ansehe, sind gewisse Dinge, die ich für widersprüchlich halte: 1. Superkräfte sind ja schon von Natur aus eine Metapher für Kraft, Macht oder Einfluss, und das wird hier ja auch immer wieder klargemacht, in der Art und Weise, wie sie benutzt und dargestellt werden. Selbst die Grundprämisse, dass du deinen Bruder erziehen und irgendwo kontrollieren musst, macht deutlich, wie potenziell brachial seine Möglichkeiten sind, die Welt zu beeinflussen! 2. Dazu kommt, dass das Spiel an vielen Stellen sooo klare Messages sendet ("Rassismus BAD! Wall BAD! Trumpf BAD!"), und dass es halt an keiner oberflächlichen Stelle vor Politik zurückschreckt, wie man ja auch schon am Setup der Hautpcharaktere merkt. 3. Und auch das Gameplay macht halt klar, dass Entscheidungen hier eine Rolle spielen sollen, dass man eben selbst entscheidet, wie die Geschichte ausgeht, und dass diese Entscheidungen eine gesellschaftliche Ebene haben, siehe bspw. der Screenshot oben. Und in diesem Gesamtkontext kann man sich in meinen Augen dann nicht mehr aus der Verantwortung ziehen. Wenn du 1942 mit einer Pistole in der Hand vor Hitler stehst, wird jede Entscheidung politisch – so persönlich motiviert sie auch ist! –, und wenn sich Dontnod entscheidet, lieber eine persönliche Geschichte zu erzählen, oder eine Geschichte über Leute, die die Gesellschaft nicht verändern wollen, und zwar im offensichtlich ziemlich problematischen Trump-America, mit objektiv mächtigen Superkräften, und mit einer gewissen Entscheidungsfreiheit für den Spieler ... dann ist das für mich eine klare politische Aussage (egal ob bewusst oder nicht!), zumindest in genau diesem Spiel, das ich gerade beschrieben habe.

In diesem Sinne total wichtig:
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Wenn ich das richtig verstehe hättest Du es besser gefunden, hätten die Entwickler einem eine klare Option geben, sich gegen die Gesellschaft derart aufzuwiegeln, dass man sie verändern kann, statt zu fliehen.
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Letztendlich würde ich sagen, dass es schwer ist, sich in dem Spannungsfeld der Gesellschaft ganz klar pro oder contra zu positionieren - immerhin gibt es gute und schlechte Seiten.
Nein, auf keinen Fall! LiS2 wäre einwandfrei ohne die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung klargekommen, aber dann hätte es für mich ein anderes Spiel sein müssen. Ein Spiel, das sehr viel bewusster (und vorsichtiger) mit seinen Bedeutungsebenen umgeht, vielleicht ein Spiel, in dem die Entscheidungen wahlweise weniger frei ODER weniger gesellschaftlich konnotiert sind, vielleicht ein Spiel, das die Finger von der Superheldenmetaphorik lässt und die Superkräfte anders konnotiert. Vielleicht auch nur ein Spiel, das vorsichtiger mit seinen politischen Bewertungen ist? Aber so wie es ist? Ja, da hätte ich wirklich gerne die Möglichkeit gehabt, es zu versuchen. Das kann natürlich auch scheitern, und damit kann man dann abermals viele interessante Aussagen treffen, aber nicht mal die Möglichkeit zu haben, zeichnet unter diesen Vorzeichen (!) ein sehr tristes Bild.

Dasselbe gilt auch für das zweite Zitat: Man muss sich absolut nicht klar positionieren, aber das Spiel WILL sich ja offensichtlich klar positionieren! (Und zwar sehr anstrengend aufdringlich teilweise ... ) Es kriegt es nur halt nicht hin, weil ihm – meiner Meinung nach – nicht klar ist, wie diese Matrix funktioniert, auf der es sich positioniert. Es gibt ja nicht nur einen klaren Strich zwischen "links" und "rechts" oder sowas, und teilweise weiß LiS2 das auch sehr genau. Aber ein paar Ebenen entgehen ihm halt? Dabei geht es mir auch nicht nur um die gesellschaftliche Veränderung, btw. Wie gesagt, nach Black Lives Matter hätte man die Polizei in dem Spiel wahrscheinlich auch noch mal ganz anders handeln lassen. Da fehlt einfach ein Stück Verständnis.

Um es noch mal zusammenzufassen: Für mich versucht und vermischt LiS2 zu viele Dinge und wird in den Widersprüchen, die darin entstehen, problematisch oder zumindestens schwammig.

Ein bisschen drehen wir uns da aber auch im Kreis; ich habe eure Punkte schon gut verstanden, denke ich. Ob das Spiel funktioniert, hängt definitiv auch an der Frage, wo man seinen Fokus legt, und in Erweiterung: mit welchen Erfahrungen und welcher Weltsicht man herangeht, das habt ihr auch gut verdeutlicht. Und ich finde es auch nicht doof oder schlecht, das Spiel gut zu finden. Zumal ich es ja im Gesamtbild auch mochte. Es ist für mich sozusagen meine altkommunistische Oma, die eigentlich total cool und nett ist, dann aber zu Weihnachten wohlmeinend raushaut, dass man doch mal die Mauer wiederaufbauen könnte, ohne zu verstehen, dass das wohl eher eine faschistische Sache wäre.



Okay, und vielleicht noch ein konstruktiver Gedanke am Schluss: Man hätte in den Endings bspw. zeigen können, wie der erwachsene Daniel Flüchtenden über die Grenze hilft (coole Szene!), oder wie er in Beaver Creek mehr tut als nur einen verunglückten Bus zu retten. Aber das Spiel hat sich halt die Allegorie in den Kopf gesetzt, dass ein Daniel, der GEGEN die Gesellschaft handelt, unwillkürlich "böse" kriminell wird, und ein Daniel, der MIT der Gesellschaft handelt, praktisch superkraft-kastriert wird, mit Fußfessel und allem drum und dran. Mit dem zweiten Teil könnte ich mich ideologisch abfinden, mit dem ersten dagegen nicht. Praktisch lässt das Spiel also "böse" und "gegen die Gesellschaft" verschwimmen, obwohl es zur selben Zeit aufzeigen will, dass auch Teile der Gesellschaft "böse" sind. Das beißt sich.