SPOILER!
Uhhh. Ich denke, das ist eine sehr gute Frage, vielleicht die entscheidende! Ich glaube, inzwischen verstehe ich auch deutlicher, wo mein Problem liegt. ^^Zitat
Ich würde sagen: Es muss kein so tightes Paket packen, aber es spielt definitiv von sich aus mit diesem Gedanken herum und ist sich am Ende wahrscheinlich selbst nicht so ganz sicher, ob es nun eine klare Aussage haben will oder nicht. Schau mal hier, das war mein Ende:
Diese Wortwahl in diesem Screenshot ist ja definitiv nicht zufällig.
Und die Auswahl der Szenen über die fünf Folgen hinweg unterstützt diesen Grundkonflikt, dieses Thema total, genau so wie die Arcs sämtlicher Charaktere: Die klassische Familienumgebung und -vorstellung bei Papa und den Großeltern, die Drogenfarm, die Kommune, Brody, die Vigilantes, selbst so Charaktere wie Flores (Latina, würde ich tippen!) und der Reverend, der sich seine eigene kleine gesellschaftliche Bubble aufgebaut hat. Und soll Mama denn nun egoistisch handeln und dafür glücklich werden oder soll sie ihre gesellschaftliche Pflicht erfüllen?
Das Spiel macht also auf jeden Fall eine Skala zwischen diesen zwei Extremen auf. (Deshalb finde ich die Beziehung der Brüder auch eher zweitrangig für die Diskussion: Sowohl Seans letzte Entscheidung als auch die Frage, wie er Daniel erzogen hat, beziehen sich auf dieselbe Skala.)
Und da sind wir wieder an dem Punkt, an dem ich vorhin war: Wenn du ein Spiel machst, das so offensichtlich politisch sein will – und das Thema selbst ist ja schon inhärent ein ungemein politisches –, dann musst du dich auf dieser Skala irgendwie positionieren, oder zumindest die verschiedenen Seiten der Skala bewerten. Wenn du das nicht tust, wenn du nur sagst "Joah, das sind halt die beiden Seiten, und beide haben was Gutes und was Schlechtes!", landest du wahrscheinlich ungewollt beim Standard, beim Status Quo, also bei der Aussage: "Die Gesellschaft ist ein gegebener Fakt. So ist es nun mal!" Deshalb sage ich auch, dass sich das Spiel für mich irgendwo konservativ anfühlt. Es bewegt sich immer in dem Rahmen, den die Gesellschaft vorgibt, selbst die "Rebellen" cosplayen eigentlich nur eine kleine, gemütliche Revolution in ihrem persönlichen Leben, während in der Realität überall in den USA massive Proteste gegen Rassismus stattgefunden haben, mit sehr realen Effekten (einige Städte mit gesenktem Polizeibudget oder aufgelöstem Polizei-Department, gesammeltes Bail money für tausende schwarze Angeklagte, ein ziemlich krasser Shift des Overton Window, um ein paar greifbarere zu nennen).
Also um noch mal zur Frage zurückzukommen: Eigentlich MÜSSTE das Spiel kein so tightes Paket packen, aber es hadert halt mit dem Gedanken herum, statt sich zu entscheiden? Oder es VERSUCHT es sogar und scheitert dabei, weil es so oberflächlich bleibt, dass es keine politisch kohärente und schlüssige Aussage findet. Letzteres könnte natürlich auch "nur" eine persönliche Sache sein, aber ich denke ehrlich gesagt, dass Politik deutlich weniger mit Meinungen zu tun hat, als es oft den Anschein hat. Denn dass man die Gesellschaft ändern kann, ist vielleicht ideologisch, aber auch ein historischer Fakt, und wenn ein Spiel mit Superkräften dir sagt, dass SELBST DU es nicht kannst, egal was du tust (in vier oder fünf verschiedenen Endings!), ist das eine sehr politische Aussage. Man könnte jetzt vielleicht argumentieren, dass das Spiel eher persönliche Entscheidungen aufzeigen will ... aber Politik entsteht ja am Ende des Tages durch persönliche Entscheidungen.
(Man könnte hier noch einen komplexen Riesenpost über die Superhelden-Metaphern im Spiel einbringen, aber da würden wir am Ende bei der Frage landen, warum Bruce Wayne nicht einfach die Obdachlosigkeit in Gotham mit einem finanziellen Fingerschnippen beendet, und davon hat jetzt gerade niemand was.)
Richtig, aber genau das ist diese Achse: Wenn du zu viel von X tust, passiert Y! Das ist ja auch generell das große Problem mit so einer binären Videospielskala (ich sage nur "gut/böse", "light/dark side" oder "paragon/renegade"Zitat
), jede einzelne Entscheidung muss den Zeiger in eine bestimmte Richtung bewegen. Alle Komplexitäten dazwischen gehen verloren.
Das Ganze hat auch eine Gameplay-Dimension: Die simplen ja/nein-Entscheidungen eignen sich natürlich viel besser für ein Spiel mit einer klaren Skala, mit einem klaren, thematischen Konflikt. Wenn man eine komplexe Matrix aus Einflüssen aufmachen will, könnte es sinnvoller sein, West-RPG-esque 6 verschiedene Antwortmöglichkeiten zu geben und jede einzelne mit ihren eigenen kleinen Konsequenzen auszustatten. Vielleeeicht haben sie das sogar versucht, über die "Erziehung" Daniels, die sich ja gerade NICHT durch eine einzelne Entscheidung begründet, wie du schon richtig angemerkt hast. Dann sollte es aber nicht zu nur zwei möglichen Enden führen: Daniel zuhause als netter Typ bei den konservativen Großeltern (in zwei Endings) und Daniel als Krimineller in Mexiko (in zwei Endings). O_ô Denn wenn das keine politische Aussage ist, in einem Spiel über Latinos und die Gesellschaft, dann weiß ich auch nicht mehr. ^^
Schnell am Rande: Wobei ich den Serienkiller-Plot schon als wichtig für die Themen von LiS1 empfinde. Er bringt sozusagen den Tod als absolute Grenze ein, die alle Lebensentscheidungen der Aufwachsenden mit greifbaren Konsequenzen versieht: Dein Leben ist nicht endlos. Du wirst irgendwann sterben (gilt generell), du KÖNNTEST sogar jederzeit sterben (gilt mit nem Serienkiller!) ... Was tust du? Bist du zufrieden mit deinem Leben, wenn es soweit ist? Wie viel willst du riskieren, bis hin zu deinem Leben, um glücklich zu werden?
Ich fand Kapitel 4 übrigens auch etwas, äh, reißerisch, aber ich muss auch sagen: Wir wären wahrscheinlich schockiert, wenn wir mitkriegen würden, wie die Priester in den Staaten wirklich reden und handeln. ^_~ Trotz allem, da hätte man mehr draus machen können, und übrigens auch mal thematisieren können, dass Religion ein DICKES Thema in den meisten Familien mit mexikanischem Hintergrund ist! Hat mich das ganze Spiel über etwas gewundert. Du hast bspw. den Effekt, dass Second-Generation-Kinder oftmals einen Konflikt mit der Religion ihrer Eltern haben und dementsprechend anfällig für Kulte u.ä. sind. Warum reden wir in Kapitel 4 nicht einmal über Daniels Religion (oder ihren Mangel!) vor dem Kult? So ist es halt ein vages "Die finden mich und meine Powerz cool hier!", und damit wird das Schreiduell am Ende eben auch nur ein ebenso vages "Wer mag mich denn jetzt wirklich?", was nicht viel zum Thema beiträgt. Dass sich die Brüder doll lieb haben, war an der Stelle ja schon klar, und das Spiel weiß das auch ganz genau, weil man besagtes Schreiduell nicht wirklich verlieren kann – es geht wieder nur darum, ob man egoistisch Rache nimmt, sich an die Gesetze hält u.ä. Da wäre so viel mehr drin gewesen.
Aber hey, es war schon lustig, dass sowohl Mama als auch ihre Kinder jeweils eine Kirche niedergebrannt haben. 8D