Kommissar Schäfer betrachtete die Nadel zwischen seinen Fingern neugierig. Er hatte himmelblaue Augen, die niemals etwas zu fokussieren schienen und sein Gesicht war sanft und entspannt. Die andere Hand, in der er kein mögliches Beweisstück hielt, steckte in seiner Hosentasche.
„Die HNO-Abteilung liegt direkt neben der Urologie. Ist das nicht irgendwie unhygienisch?“
Der Arzt, der neben Kommissar Schäfer stand, blinzelte.
„Verzeihung?“
„Angenommen, ein Patient ist einmal wegen Schluckbeschwerden hier und einmal wegen... äh... anderen Beschwerden weiter unten. Angenommen, es kommen jetzt einige Instrumente durcheinander...“
„So etwas passiert hier nicht.“
Schäfer legte die Nadel zurück auf das gepolsterte Tablett. Seine Stirn legte sich kurz in Falten, als sähe er nicht auf eine Ansammlung medizinischer Gerätschaften, sondern auf ein Puzzlespiel mit zwanzigtausend Teilen, das kurz vor seiner Vollendung stand.
„Wie lange war Lukas insgesamt bei Ihnen?“
„Die Therapie hat kurz nach seinem vierten Geburstag angefangen, also ungefähr... zwölf Jahre.“
Der Kommissar nickte leicht. Er schien das letzte Puzzleteil in der Hand zu halten. Jetzt musste er nur noch die Stelle suchen, wo er es einsetzen konnte.

Das Mädchen neben Lukas trug einen In-Ear Kopfhörer in ihrem rechten Ohr. Der andere baumelte am Saum ihrer Jacke herunter und schaukelte, wenn sie im Takt der Musik wippte. Lukas hörte leises Trommelspiel, schnell aber rhythmisch. Es war angenehm.
Die Bank, auf der er saß, war über die Jahre unbequem geworden. Zu Anfang war er noch zu klein gewesen, um sie beengend zu finden, aber je älter er wurde, desto mehr fragte er sich, wie man als erwachsener Patient länger als ein paar Minuten auf ihr sitzen konnte. Seiner Sitznachbarin schien es nichts aus zu machen, andererseits hatte er sie hier noch nie gesehen.
„Möchtest du mithören?“
„Wie bitte?“
Er sah sie an. Sie lächelte und hielt ihm den linken Kopfhörer hin, aus dem jetzt Gesang strömte.
„Hier. Ich höre auf dem linken Ohr nichts, also wenn dir einseitige Musik nichts ausmacht...“
Sie tat es nicht. Lukas nahm den linken Kopfhörer und lauschte. Es hörte sich an wie ganz normale Musik, wie er sie jeden Tag hörte. Außer dass diese Kopfhörer ein klein wenig besser waren.

„Valerie Svoboda war siebzehn, als sie starb.“
Kommissar Schäfers Stimme schnitt die Atmosphäre im Raum wie ein Messer ein Stück Gazestoff.
„Ein Autounfall. Der Fahrer hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er kam von links, der Seite, von der sie nichts hörte. Sie war auf der Stelle tot.“
So ist das Leben, ergänzte er in Gedanken, es trifft dich immer von da, wo du nicht vorbereitet bist. Wie ein Holzstäbchen, das einem von einem unsanften Arzt in die Kehle geschoben wird. Ob es wohl hygienisch war, zuerst die Kehle und dann die Harnröhre mit demselben Stäbchen zu untersuchen? Nein, wahrscheinlich nicht.

Lukas und Valerie waren glücklich. Sie mussten sich gegenseitig nicht erklären, wie es war, wenn man wie sie war. Sie gingen immer auf derselben Seite zueinander, er rechts, sie links. Aus diesem gegenseitigen Verständnis war Liebe geworden und als sie nicht mehr da war, fühlte sich Lukas zum ersten Mal in seinem Leben wirklich halb taub. Man hatte ihm sein rechtes Ohr genommen, das er vorher nie vermisst hatte. Schon komisch. Dass man etwas haben konnte, was man nie vermisst hatte, und dann...

„Der Unfallverursacher wurde sechs Monate später tot aufgefunden. Wir haben den Täter und damit auch das Motiv. Jugendstrafrecht hin oder her, ich denke, Lukas hat seine Lektion gelernt.“
Kommissar Schäfer ging nach draußen, noch bevor die Diskussion richtig anfangen konnte. In der Hosentasche hatte er einige Holzstäbchen, die noch in ihrer Plastikverpackung steckten. Sein Blick ging nach oben zum Himmel. Keine Wolke war daran zu sehen. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke nach oben. Die Welt war ein seltsamer Ort, dachte er. Vor allem dann, wenn sie zwei Menschen bestrafte, die nichts weiter getan hatten, als in ihr zu leben.