Jetzt mal so ganz kryptisch aus persönlicher Erfahrung gesprochen: FachärztInnen sind in der Tat nicht immer in der Lage, eine Depression richtig zu diagnostizieren. Aber das sind Depressive selbst aufgrund ihrer Verfassung leider oftmals noch weniger. Eine gute Psychologin kann aber in vielen Fällen auch aus der Verbindung von Gesagtem, Beobachtetem und Ungesagtem die richtigen Schlüsse ziehen. Das Diagnosehandwerk ist stets ein deutendes, vor allem aber auch ein fehleranfälliges; während bei physiologischen Leiden eine Bandbreite von Tests und bildgebenden Verfahren zur Verfügung steht, sind ÄrtzInnen bei psychologischen Leiden aber oftmals auf Intuition und Beobachtungsgabe angewiesen, manchmal gar auf die bewusste Inkaufnahme einer womöglichen Scheindiagnose (z.B. weil es Betroffenen manchmal hilft, überhaupt einen Namen für die Sache und eine Behandlung dafür zu erfahren). Der rapide Anstieg an Depressionsdiagnosen die letzten Dutzend Jahre etwa ist ein Anzeichen für eine "laschere" Diagnoseschwelle, aber dadurch durchaus ein gutes, weil die Bereitschaft, eine Depression zu diagnostizieren, durchaus mehr wert ist als eine (ohnehin tendenziell unmögliche) absolut sichere Diagnose. ÄrztInnen sind dabei, auch wenn wir sie gern als Halbgötter imaginieren, immer noch fehlbare Menschen.
Und oftmals ist selbst die Einschätzung dieser fehlbaren Menschen eine bessere als die Selbsteinschätzung, weil ihre Fehlbarkeit mindestens mit einer fachlichen Qualifikation gepaart ist. Aber selbst fachliche Laien können die persönliche Situation aus der Außenperspektive manchmal besser einschätzen als man selbst: Gerade Depressive sind sehr anfällig für eine Art der Verdrängung und Selbstverleugnung, die Anzeichen nach Außen produziert. Ich will das jetzt nicht zu weit treiben und um Himmels willen keine Fremddiagnosen ermuntern, aber es gibt beispielsweise Menschen, denen ein psychisches Leiden so etwas wie einen "pathologischen Gesichtsausdruck" zufügt, zum Beispiel ein sehr unnatürliches Lächeln, das maximale Beklommenheit übertüncht, oder auffällig Formen eines leeren Gesichtsausdrucks. Ich will damit nicht sagen, dass man psychisches Leiden am Gesicht ablesen kann, aber es gibt verschiedene Indikatoren, die außerhalb der Kontrolle und Wahrnehmung Betroffener liegen -- so ein "pathologischer Gesichtsausdruck" wäre eine besondere und prägnante Form davon. (Das ist KEIN Diagnoseinstrument, sondern eine Veranschaulichung.) So oder so, eine Diagnose bzw. überhaupt das Diagnosegespräch mit einem Facharzt setzt immer einen starken Vertrauensvorschub voraus. Der wird leider manchmal enttäuscht, aber oftmals auch belohnt, besonders dann, wenn ein fachlich qualifizierter Arzt, beispielsweise, aufgrund seiner Qualifikation erkennt, dass die vermutete Depressive ihm gegenüber tatsächlich an manischen Depressionen leidet, was teils völlig andere und wirkungsvollere Behandlungswege ermöglicht als eine bestätigende Diagnose von Langzeitdepression. Etc.
Was das eigene Erkennen im Frühstadium angeht: Das ist unter Umständen möglich, will ich ohne jegliche Qualifizierung behaupten. Auch das kann aber zu einer Form der Pathologisierung (also der Unterstellung, dass der eigene Zustand eine tiefere Verwurzelung hat und nicht von selbst vorübergehen kann) führen. Das ist vor allem dann schwierig bis gefährlich, wenn man gegen diesen Zustand aktiv etwas tun möchte. Ich will nicht entmutigend klingen oder behaupten, dass Menschen sich nicht an den eigenen Haaren aus Sümpfen zu ziehen verstünden. Das gibt es bestimmt. Aber gerade dieses Selbstpathologisierung und der Wille zur Selbsttherapie kann den Zustand verschlimmern, bis er tatsächlich pathologisch wird, oder sodass ein bereits pathologischer Zustand verschlimmert wird.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Ich habe extreme Schlafprobleme, die mir merklich auf die Stimmung und meinen Energiehaushalt drücken, ich vernachlässige wichtige Dinge, kann mich nicht mal zu Aktivitäten aufraffen, die mir Spaß machen oder meine Lebensqualität verbessern. Das kann bereits eine depressive Verstimmtheit oder gar eine depressive Störung sein, das können einfach Schlafprobleme sein, die eben ihre Konsequenzen für den Alltag haben. Egal, was es ist, sage ich mir, ich werde einfach einen gesunden Schlafrhythmus erzwingen. Also stehe ich am nächsten Tag um sieben auf und nehme mir vor, den Tag über möglichst aktiv zu sein, viel zu schaffen; putzen, einkaufen, ein bisschen Sport, dann abends früher schlafen gehen und spätestens übermorgen sollte es mir besser gehen. Dann bin ich aber so erschöpft, dass es nur noch zum Einkaufen reicht, den Rest der Zeit verbringe ich mit Netflix, dann kann ich abends nicht einschlafen und mache mir Vorwürfe, dass ich gegen die Erschöpfung nicht angekämpft und wenigstens ein klein wenig Sport gemacht habe, schlafe gegen halb vier ein, überhöre am nächsten Tag den Wecker und wache erst kurz nach elf auf. Der neue Tag ist ruiniert, ich mache mir noch mehr Vorwürfe, ich habe versagt. Also neuer Versuch am nächsten Tag. Ähnliches Spiel, ich schaffe eine Aktivität, dann bin ich erschöpft, schlafe am Nachmittag eine Stunde, bin abends zu wach, um ins Bett zu gehen, halb fünf kann ich endlich einschlafen, ich wache am nächsten Tag kurz vor elf auf und fühle mich abgeschlagen, habe Kopfschmerzen; das Telefon klingelt und ich bin so voll mit Scham und Versagertum, dass ich nicht rangehen möchte.
Nochmal, ich will nicht entmutigend klingen. Aber eine Selbsttherapie hilft bei schlimmen depressiven Zuständen (und ihren äquivalenten -- selbst wenn das Beispiel oben komplett nur durch Schlafprobleme verursacht wäre) meist nicht. Selbst eine depressive Verstimmtheit, die man also nicht länger als zwei Wochen hat, muss ganz oft leider ausgehalten werden, bis sie sich von selbst bessert. Unser Körper, unsere Psyche sind manchmal Arschlöcher like that. Ich will dabei aber nicht verschweigen, dass gerade depressive Verstimmtheit manchmal durchaus durch ein "Aufrappeln" behoben werden kann, dadurch sich vehement Gutes zu tun oder Rat, Freundschaft und/oder Zuneigung anderer Menschen zu suchen und zu finden. Manche persönliche Krisen lösen sich manchmal einfach durch den Schaum auf der Kaffeetasse nach dem Sonntagsschmaus bei den Eltern.
Ich will aber auch nicht empfehlen, sich mindestens ärztlicher Zurkenntnisnahme zu Verweigern. Nochmal kryptisch: Eine Ärztin, die einem die eigene ostensible Depression als eine Art Übertreibung verkaufen will und nur blöde, nicht hilfreiche Fragen stellt, ist immer noch eine Stimme, die man ignorieren und durch eine andere Stimme ersetzen kann. Vielleicht fällt dieser Ärztin sogar ein Hilfebedürfnis auf, das sie dann schlecht einlöst. Selbst damit lässt sich umgehen. Wer aber so weit ist sich einzustehen, unter Umständen an einer Depression zu leiden, muss sich -- leider, ich fürchte -- auch eingestehen, dass eine Depression mit einem Hilfebedürfnis einhergeht, das man sich selbst nicht leisten kann.
Ich möchte schlussendlich ein Diagnosetool nennen, das ich persönlich für aussagekräftig halte, ohne dass ich irgendeine Qualifikation in diese Richtung genieße oder mir einbilden darf, dass meine Meinung dahingehend irgendeine Validität besitzt: der Versuch, einen freien Tag selbstverantwortlich und dezidiert mit Aktivitäten zu gestalten; zum Beispiel einen Ausflug oder einen Hobbytag o.ä. Wenn das nicht gelingt -- also bei der Planung an Selbstzweifeln oder Lustlosigkeit o.ä., oder aber bei der Durchführung an ähnlichen Hürden scheitert --, dann möchte ich empfehlen, zumindest in Erwägung zu ziehen, über psychologische Beratung nachzudenken. Wenn all das gelingt und sich danach Gefühle wie Reue, Scham oder Gefühlsleere einstellen, wenn sich eine vorher empfundene depressive Stimmung dadurch nicht löst, bleibt die Empfehlung zu psychologischer Beratung.
Und so viel möchte ich aus persönlicher Erfahrung (das ist gerade deshalb nicht verallgemeinerbar!) beigeben: Eine gesunde Psyche, ein gesundes Empfinden lassen es zu, schon kleinere Erfolge oder Glücksmomente zu genießen; sie machen es möglich, die freie, aktivitätsreiche Gestaltung eines freien Tages zu genießen und mindestens eine Weile lang ein Gefühl von Zufriedenheit zu verspüren -- selbst wenn nicht alles so schön war, wie man es sich vorgestellt hat. Fehlt das, kann das mehrere Ursachen haben. Fast alle dieser Ursachen verdienen das Eingeständnis, dass man vielleicht Unterstützung benötigt, um ein Mindestmaß an Zufriedenheit zu genießen.
Ihr wisst mittlerweile, dass mein "schlussendlich" trügerisch ist, deshalb ein letzter Absatz: Ich will niemals derjenige sein, der sagt, etwas ist aussichts- und ausweglos, gerade im Falle einer Depression; es gibt viele Mittel und Wege, mit sich selbst und mit unzufriedenstellenden Gemütszuständen umzugehen. Ich möchte mir auch die Auffassung aufrecht erhalten, dass man selbst bei Rückschlägen in vielen Fällen selbst ganz gut weiß, wie man sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht. Ich möchte dabei festhalten, dass ich ein starkes (und sicher irrationales) Misstrauen gegenüber Ärzten aller Couleur habe. Ich möchte dabei aber verstanden wissen, dass fachärztliche Beratung eine der Aussichten, Auswege und Möglichkeiten ist, dass auch das Teil des sich-an-den-eigenen-Haaren-Ziehens ist: einen Arzt aufzusuchen ist kein Scheiternseingeständnis, sondern eine mündige, selbstbestimmte Entscheidung, jemandes Einschätzung und Unterstützung zu suchen, der dafür qualifiziert ist. Ein mündiger, selbstbestimmter Mensch kann diese Ärztin immer noch furchtbar finden und aus der Praxis stürmen, oder sich von diesem fehlbaren Menschen da erzählen lassen, dass man am besten erstmal mit einem selektischen Serotonin-Nordrenalin-Wiederaufnahmehemmer und einer Gesprächstherapie beginnt und dann schaut, ob das was besser macht. Es gibt leider keine Patentrezepte, es gibt manchmal sogar eine gewisse Schicksalsabhängigkeit; aber man muss sich nicht dazu zwingen, früh um sieben aufzuwachen, um mit einer Depression zu verfahren. Man darf auch Hilfe suchen, die einem qualifiziertermaßen sagen kann, dass das Quatsch ist.