Ohne mich großartig verbreiten zu wollen, hier erstmal schnell die tick-off boxes, um einen Verdacht zu prüfen. Wenn so ein Verdacht sich anhand der Kriterien erhärtet, ist es klug, eine Fachärztin aufzusuchen oder -- im richtigen Moment! -- einer betroffenen Person eine fachärztliche Beratung vorsichtig anzuempfehlen.
Man spricht gemeinhin von einer Depression, wenn mehrere typische Symptome mindestens zwei Wochen lang anhalten. Der Zustand unterhalb dieses Zeitrahmens wird für gewöhnlich als depressive Episode gefasst. In beiden Fällen lassen sich mehrere Formen von Depression unterscheiden; darauf gehe ich jetzt noch nicht weiter ein.
Typische Symptome sind v.a. die folgenden:
- Andauernde Traurigkeit, Unruhe, oder ein Gefühl der "Leere"
- Gefühle der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit, starke pessimistische Tendenzen
- deutlich erhöhte Reizbarkeit
- Gefühle von Schuld und Hilflosigkeit, Überzeugung der eigenen Wertlosigkeit
- abrupter Verlust der Freude an Hobbys bzw. abruptes Desinteresse für z.B. aktive Freizeitbeschäftigung
- deutlich schnellere Erschöpfung, übermäßige Müdigkeit
- Verlangsamung von Bewegung und Sprache
- Gefühl der Ruhelosigkeit, Probleme Entspannung zu finden oder gar still zu sitzen
- Konzentrations-, Erinnerungs- und Entscheidungsschwierigkeiten
- Schlafprobleme, Verlust des Schlafrhythmus
- deutliche Veränderungen im Essverhalten, Appetitlosigkeit / gesteigerter Appetit, deutliche Gewichtsschwankungen
- Selbstmordgedanken, Selbstmordversuche
- Verspannungen, Schmerzen, Kopfweh, Krämpfe, Verdauungsprobleme o.ä., die keine erkennbare physische Ursache haben und/oder nicht auf konventionelle Behandlung ansprechen
Für eine Textbuchdiagnose von "Depression" bedarf es neben dem Symptom "depressive Verstimmtheit" (Andauernde Traurigkeit, Unruhe, oder ein Gefühl der "Leere") für mindestens zwei Wochen drei bis fünf weitere Symptome aus z.B. dieser Liste. Da einige sich aber gegenseitig bedingen, andere verschiedenartige Ursachen haben können und die meisten davon nicht zwangsläufig mit einer u.a. hirnphysiologischen Störung (Fall der u.a. klinischen Depression) einhergehen müssen, obliegt die Diagnose richtigerweise dem Gesamtermessen einer Ärztin. Die kann z.B. auch eine subsymptomatische Depression diagnostizieren, also einen Zustand, der wie eine Depression zu behandeln ist und/oder dieselbe Beeinträchtigung zur Folge hat.
Unabhängig davon erleben unterschiedliche Menschen ihre depressive Verstimmtheit, ihre Jahreszeitendepression, ihre depressive Störung etc.pp. ausgesprochen unterschiedlich. Der weitläufige Glaube etwa, das Depression eine starke Form der Trauer/Traurigkeit ist (was sie u.a. sein kann), blendet aus, dass Depressionen am häufigsten mit emotionaler Leere und Hoffnungslosigkeit einhergehen. Viele Depressive sind nicht permanent traurig, sondern nur eingeschränkt zu bestimmten Empfindungen fähig -- das kann, vor allem in Verbindung mit Selbstverleugnung, Drogenmissbrauch und sozialen Störungen, sogar zu einer "sad clown"-Persönlichkeit führen: Die Person wirkt fröhlicher und aufgeweckter als alle anderen, weil sie eine Clownsmaske aufsetzt.
Schwierig an der Idee einer Selbstdiagnose und eines eigenen präventiven Entgegenwirkens ist deshalb vor allem auch der Erfahrungshorizont bzw. der Horizont der Selbsterfahrungen einer Person. Je nach Stärke, Art, Dauer, Auslöser etc. der Depression stellt sie einen massiven Schnitt in der individuellen Biographie dar. Das heißt einerseits, dass eine Depression ein traumatisches Erlebnis sein kann, das ein "Vorher" von einem "Nachher" dissoziiert. Krass ausgedrückt geht ein "frühes Ich" an der Depression zugrunde, und ein "neues Ich" geht aus der Depressionserfahrung hervor. Andererseits führen die verschiedenen negativen und auf sich selbst gerichteten Gefühlsqualitäten, die mit Depressionen einhergehen, schnell zu einem Verkennen des Zustands. Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Gefühlskälte und die scheinbare Hilflosigkeit führen -- beispielsweise -- bei vielen Depressiven zu starken Schuldgefühlen -- sodass sie meinen, sie wären grundlegend defekt, irgendwie falsch, soziale Hochstapler. Sich in so einem Zustand eine Depression einzugestehen -- die dann selbst wie ein Scheitern wirkt --, fühlt sich dann schnell wie eine unglaubwürdige Ausrede an, à la "Alle anderen kommen doch auch prima klar, ich müsste mich nur mehr anstrengen, statt mich einer Diagnose zu ergeben, nur mehr anstrengen, dann wird es nach und nach besser."
Ob der eigene Zustand eine waschechte Depression ist, können Betroffene deshalb eigentlich erst im Nachhinein feststellen oder aufgrund vorhergehender Erfahrungen mit Depressionen. Und während Menschen, die schon einmal depressive Zustände überstanden haben, leider sogar weitaus anfälliger für neuerliche depressive Zustände sind, haben sie sich in der Regel Techniken und Verhaltensweisen erworben, der Verstimmtheit oder anderen Symptomen entgegen zu wirken. Diese sind aber leider genauso individuell und spezifisch wie die Art und Weise, wie sich Depressionen pro Person ausdrücken, und ebenso individuell und spezifisch wie die Auslöser und Begleitursachen.
In jedem Fall gilt: Wer selbst das Gefühl gewinnt, mit ihm/ihr stimmt etwas nicht, da treffen mehrere der oben gelisteten Symptome erkennbar zu, sollte sich nicht scheuen, fachärztliche Beratung zu suchen. Dafür muss und sollte man nicht zwei Wochen warten, und man sollte sich nicht davor fürchten, irgendwie als mimosenhaft wahrgenommen zu werden; man sollte sich auch nicht vor dem Label "Depression" fürchten, in den meisten Fällen wird das nämlich sogar vermieden, die Diagnose ist zur Anzeige eines Behandlungsbedarfs vorgesehen. Unabhängig davon, ob die eigene Verstimmtheit (plus Begleitsymptome) eine depressive Störung darstellt, gibt es Therapieoptionen und auch die Option, verschiedene Einzelsymptome zu behandeln. Nur ein Beispiel, ohne irgendwas runterspielen zu wollen: In manchen Fällen von depressiver Verstimmtheit gepaart mit Schlafproblemen und deutlicher Erschöpftheit kann eine Wiederherstellung des Schlafrhythmus' (z.B. auch durch Medikamente, die den Nordrenalin-Haushalt regulieren) bereits genug sein. Das gilt wiederum nur für manche Fälle und selbstverständlich nicht im Falle einer klinischen und/oder Langzeitdepression.
Wer hingegen das Gefühl gewinnt, dass mit einer Person in ihrem/seinem Umfeld etwas nicht stimmt und da mehrere der oben gelisteten Symptome erkennbar zutreffen, der halte sich bitte zurück mit Empfehlungen professioneller Beratung oder gar dem Wortfeld 'Psychiatrie'. Das ist eine Form der Stigmatisierung, die u.a. aus vorher erwähnten Gründen die Situation der Person verschlimmern kann. Und so apodiktisch das klingen mag, bei vielen ernsthaft Betroffenen ist bereits die Frage "Wie geht es dir?" oder "Kann ich was für dich tun?" zu viel. Wer vermutet, eine andere Person könnte an einer Form der Depression leiden, tut zuallererst am besten daran,
(a) sich zu hüten, Diagnosen/Urteile/Einschätzungen anzustellen oder diese gar auszuformulieren -- niemand weiß, wie sich eine andere Person fühlt, Depressionen sind neben z.B. akuten Traumata die unmitteilbarsten Erfahrungen;
(b) maximale Toleranz und Geduld zu zeigen -- natürlich ist es blöd bis unangenehm, wenn die andere Person scheinbar indifferent ist, oder unhöflich, oder reizbar, oder überkandidelt, aber die andere Person wird im Falle einer Depression ohnehin entweder nicht mit sozialem Widerstand umgehen können oder ohnehin noch mindestens drei Tage mit dieser einen kleinen unsensiblen Bemerkung oder Handlung beschäftigt sein;
(c) die Frage "Geht es dir gut?" im richtigen Moment zu stellen -- auch Langzeitdepressionen sich episodisch aufgebaut, in den meisten Fällen wechseln Betroffene zwischen einer Fassade, die nicht gebrochen werden darf, und starker Auseinandersetzung und Verletzbarkeit; ihnen ist die Fassade unbedingt zu belassen und im Zuge der Auseinandersetzung unbedingt beizustehen, wenn sie es zulassen.
Ich will auch noch darauf hinweisen, dass es verschiedene Zustände gibt, die wie eine Depression wirken können, aber nicht als eine Depression behandelt werden dürfen. Akute Erschöpfung kann sich beispielsweise wie eine Depression oder wie Burnout anfühlen und durchaus mehrere Tage dauern. In diesem Fall ist (wie bei Burnout) nicht am Seelischen oder Neurologischen anzusetzen, sondern zuvorderst an den Umständen, die Erschöpfung verursachen. Depressionen sind demgegenüber sozusagen "anlasslose" Gefühlserleben -- sie können einen spezifischen Auslöser haben, in seiner Folge löst sich die traumatische Beeinträchtigung des Erlebens aber vom Auslöser ab und verselbstständigt sich. Das Symptom "Hilflosigkeit" rührt also in der Regel daher, dass man scheinbar nichts an den Zuständen ändern kann, um sich voraussichtlich besser zu fühlen. Drückt man diese Bürde der Hilflosigkeit nun jemandem auf, die/der sich chronisch überarbeitet, pathologisiert man einen Zustand, der nicht pathologisch ist.
Und ganz wichtig: Es gibt in dem Sinne kein "kein Zurück mehr". Es gibt Ausmaße von psychotischen Depressionen, die so gut wie keinen Behandlungserfolg versprechen, diese sind aber vergleichsweise selten; es gibt Formen von Langzeitdepressionen, die in eine Spirale der Kraft-, Emotions- und Erfahrungslosigkeit führen, aus der sie niemand befreien kann, auch dies ist ausgesprochen selten. Beide Fälle gehen so gut wie immer mit schlimmsten Traumata und/oder mit sehr langer Hospitalisierung und/oder mit enormer Isolation einher. Die große Masse der Betroffenen -- auch derer, die keinen anderen Ausweg finden als den Freitod -- ist therapierbar oder sogar in der Lage, eine Depression ohne fremde Hilfe zu überwinden. Betroffenen kann diese "Verlernbarkeit" von Depressionen aber per se erst richtig einleuchten, wenn sie die Depression überwunden haben. Und das macht die Sache so schwierig. Aber in der großen Masse der Fälle ist die Sache prinzipiell lösbar.