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Held
Angespornt dadurch, wie sehr ich Mängelexemplar mochte, habe ich mir quasi direkt im Anschluss Wachstumsschmerz und 180 Grad Meer zu Gemüte geführt, die beiden weiteren Bücher von Sarah Kuttner - allerdings als Hörbuch, weswegen ich diesmal keinen Ausschnitt habe. (ich war mir nicht sicher, ob Hörbücher für die Challenge zählen, wollte aber trotzdem kurz berichten!)
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Sarah Kuttner, Wachstumsschmerz (2011)
Wachstumsschmerz wird erzählt aus Sicht von Luise, einer Schneiderin für Herrenanzüge Ende 20, die sich mit ihrem langjährigen Partner Flo dazu entschieden hat, zusammenzuziehen - was für beide ein großer, da vor allem auch neuer, Schritt ist. Die Herrenschneiderei läuft solala, die Beziehung ist traumhaft - aber Luise ist unzufrieden. Mit sich selbst, ihrer Situation, ihren Zielen: Alles um sie herum suggeriert ihr, dass sie doch mehr wollen muss, dass sie doch etwas aus ihrem Leben machen soll. Aber warum eigentlich, und vor allem was denn um Himmels Willen?
Von viel mehr handelt das Buch eigentlich schon gar nicht, aber genau das mag ich daran: Es gibt einige, ausgewählte Foki, und die werden schön und von mehreren Seiten aus beleuchtet.
Besonders erwähnen möchte ich noch den Erzählstil: Wie immer bei Kuttner ist das ganze Buch aus der ich-Perspektive erzählt, aber jeder größere Abschnitt endet in einem "Memo" von Luise an Flo: Kleine Passagen, wie Briefe, die offenbar zeitversetzt spielen, inmitten einer ganz frischen Beziehungspause. Die beiden Erzählstränge nähern sich somit einander an, man sieht gewissermaßen, wie alles gut ist, weiß aber, dass der große Knall kommen wird. Bloß wie ist unklar. Das ist jetzt natürlich um Gottes Willen nicht die Neuerfindung des Rads, aber ich fand, dass es der oft wieder sehr leichten und lustigen Geschichte eine gewissen Tiefe und sowas wie einen gut greifbaren roten Faden mitgibt.
Der eigentlich Grund für die Fünf-Sterne-Wertung ist aber das Ende, das mich sehr unerwartet getroffen hat. Ich hab sicher noch zwei Minuten die Kofhörer drin gehabt in der Hoffnung, es käme noch was, und mich nicht getraut nachzusehen. Mehr will ich gar nicht sagen um nicht zu spoilern, aber ich fand es sehr effektvoll und mutig.
★★★★★ (5/5)
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Sarah Kuttner, 180 Grad Meer (2015)
In 180 Grad Meer verdient sich Jule (mitte 30, dauer-schlecht-gelaunt, streitsüchtig, leicht nymphomanisch) ihr Geld als leidenschaftslose Jazz-Sängerin in einer Bar, mit deren Besitzer sie schläft. Als das jedoch ihr Freund herausbekommt, gibt es Stress: Er will eine Pause, sie kommt für ein paar Wochen bei ihrem Bruder in London unter - nur ein paar Stunden entfernt von ihrem krebskranken Vater, mit dem sie sich schon vor Jahren zerstritten hat.
Obwohl der Aufhänger für Jules England-Trip ihre Beziehung ist, steht diese gar nicht so sehr im Fokus des Buchs, vielmehr geht es darum, etwas Abstand von sich selbst zu nehmen und sich so aus sicherer Distanz betrachten zu können: Wer und wie bin ich eigentlich (und vor allem wieso) - und was bedeutet das für die Personen um mich herum?
Von allen drei Büchern gefällt mir 180 Grad Meer gleichzeitig am besten und am wenigsten. Einerseits hat die Autorin es inzwischen wirklich raus mit jeder einzelnen Handlung, jedem Satz, jeder Geste ihre Charaktere lebendig werden zu lassen. Nichts ist umsonst da, alles drückt aus, was für ein Mensch das ist. Andererseits gibt es gleich mehrere Knackpunkte: Jules Beziehung, ihr fast schon krankhaftes Verhältnis zu sexueller Nähe, das schwierige Aufwachsen mit ihrem Bruder bei einer alleinerziehenden, schwer depressiven Mutter, die Entscheidung, wie man mit einem sterbenskranken Mann umgeht, den man eigentlich gar nicht mag, aber dessen Tochter man nunmal leider ist. Von diesen ganzen Knackpunkten wird eigentlich kaum einer richtig beendet, vielmehr bleiben alle in verschiedenen Phasen in der Luft hängen. So sieht's aus, mehr gibt das Leben nicht her, denk dir was schönes dazu.
Das finde ich als Leser höchst unbefriedigend (daher "am wenigsten"), auf einer theoretischen und erzählerischen Ebene imponiert es mir aber wahnsinnig und geht voll d'accord mit der Kernbotschaft dieser drei Romane: Im Leben läuft vieles schief, Menschen gehen oft kaputt und überhaupt sind Happy Ends zwar ein schönes, aber auch ziemlich naives Konzept - weiter geht es trotzdem immer irgendwie.
Einen Punkt Abzug gibt es dafür, dass Jule mir an ein paar Stellen etwas zu fix einsichtig war - wenn man einen Charakterzug lang und breit als Kerneigenschaft und Ergebnis einer sehr langen, verkorksten Kindheit etabliert, sollte die Lösung meiner Meinung nach nicht an einem Nachmittag in Form eines einzigen Dialog präsentiert werden. Vor allem nicht, wenn es ja sonst in der Geschichte eigentlich genau darum geht: Diese ganzen Macken und Narben sind eben nicht so einfach aus der Welt zu schaffen, wenn überhaupt.
★★★★☆ (4/5)
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Nachdem ich jetzt alle drei Romane von der guten Frau relativ begeistert gelesen bzw. gehört habe: Würde ich sie empfehlen? Jain.
Ich weiß ganz ehrlich nicht, wie andere Leute diese Geschichten finden würden. Auf mich haben sie eine große Wirkung, weil ich mich in vielen kleinen Details, aber auch größeren Thematiken, wiederfinde - entweder aufgrund bestimmter Erlebnisse oder auch einfach aufgrund bestimmter Ansichten. Ich kann mir vorstellen, dass das alles (allen voran die Protagonistinnen) furchtbar anstrengend ist für Leute, die diese Identifikationsmöglichkeit da nicht haben oder die einfach gerade sauber konstruierte Handlungsstränge mit sauber verknoteten Enden wollen.
Hand aufs Herz, alle drei Frauen sind ziemlich kaputt, alle drei verstehen es super, unsympathisch zu sein und sich selbst zu sabottieren, alle drei Geschichten haben wahnsinnig viele lose Enden und lassen einen ohne Antworten auf die meisten aufgeworfenen Fragen zurück. Das muss man mögen. Ich mag es sehr gerne und hoffe, dass Sarah Kuttner vielleicht Lust auf noch ein viertes Buch bekommt.
Geändert von BDraw (02.03.2018 um 22:55 Uhr)
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