Leona lauschte Leighs Geschichte aufmerksam.

Von der besten Freundin so hintergangen zu werden, musste wirklich fürchterlich sein. Sie selbst hatte in ihrem jungen Leben noch nie so etwas wie eine ernsthafte Freundschaft gehabt. Da waren Leute, die mochten sie. Und Leute, die sie mochte. Doch niemanden hätte sie als Freund bezeichnet. Womöglich hätten Mama und Papa das auch gar nicht zugelassen. Sich eng an jemanden zu binden, barg Gefahren. Das war das Credo der Pettys. Da war es auch keine Überraschung, dass sogar das Verhältnis der beiden stets kalt war. Und so wie sie mit ihrer Tochter umgegangen sind, war auch selten von Liebe zu sprechen. Sie war ein Vorzeigekind, ein braves Mitbringsel, das man Personen präsentierte, von denen man sich etwas versprach. Hätte Leona jemals Ärger gemacht - auch nur ein bisschen -, hätte sie Probleme gehabt, wäre sie fallen gelassen worden. Oder besser: Als sie das erste Mal tatsächlich Probleme hatte, wurde sie fallen gelassen.

Doch das war noch immer kein Vergleich dazu, wie diese Jennifer Leigh fallen gelassen hatte. Und das obwohl die beiden wohl... enger miteinander verbunden waren als die 'Lilie' es sich wirklich vorstellen konnte. Der Gedanke, dass zwei Frauen sich in einer Art und Weise näher kamen, die... - es war unvorstellbar. Dahingehend wurde Leona 22 Jahre lang hin erzogen. Inzwischen hatte sie für sich erschlossen, dass nicht alle - sogar die wenigsten - der Vorgaben ihrer Eltern wirklich das waren, wonach sie sich richten wollte. Doch das bedeutete noch nicht, dass bestimmte Dinge sie nicht zumindest - ganz wertfrei - überraschten und vielleicht überforderten, hatte sich die Floristin doch noch nie eigene Gedanken über so etwas gemacht.

Doch unabhängig davon, was nun zwischen Jennifer und Leigh gewesen war: Es zählte der Verrat. Der jungen Frau war klar, dass sie mit diesem Wissen im Hinterkopf noch viel mehr für ihre Retterin da sein musste.

"Wenn es dafür sorgt, dass du am Leben bleibst, ist es gut, Leigh", sagte sie noch immer so leise, dass Mademoiselle Laureanne es nicht hören konnte. Auch, wenn es dafür ja gar keinen echten Grund mehr gab, war es noch immer ein vertrauliches Gespräch.

"Aber...", fuhr die Blondine dann zweifelnd fort. "Tut es das?" Sie konnte sich noch immer kein Bild von Schuld und Unschuld machen. Für sie war nur sicher: Leigh war keine Mörderin. Und so viel wie andere gegen sie wetterten, mussten sie - oder ein Teil von ihnen - ja böse sein. Oder nicht? "Du bist nicht schuldig. Wenn du aber so tust als wärst du es, ist der wahre Schuldige doch noch unter uns. Und wenn der in der nächsten Nacht wieder tötet, glauben alle, du hättest die Absprache gebrochen. Und dann geht es von vorne los." Bevor die Verzweiflung sie übermannte, fanden ihre anfangs gen Boden gerichteten, unschuldigen blauen Augen wieder das Gesicht ihrer Begleitung, deren stete Entschlossenheit ihr abermals ein kleines bisschen Stärke verliehen.

"Oder glaubst du, dass jetzt - wo der erste Agent vom Präsidenten tot ist - vielleicht auch die wirklichen Mörder damit aufhören und sehen, dass es keinen Sinn mehr macht, für ihn so etwas Grausames zu tun? Wenn nur irgendjemand die Schuld auf sich nimmt?" Vielleicht wollten sie die Schuld ja nur auf Leigh schieben, um ihren eigenen Namen trotz Untaten rein zu waschen, in Zukunft kein Stigma auf dem eigenen Namen zu tragen. Und wenn in Zukunft dann alle Angst vor der Rebellin hatten, weil sie fälschlicherweise für eine Killerin gehalten wurde, könnte immerhin Leona noch zu ihr stehen.