Der auf dem Zettel stehende Text konnte einen nur wehmütig machen. Leona ging es jedenfalls so.
Irgendwie hatte sie bei Estaga bisher nur an einen schmierigen Kerl gedacht. Einen Ausbrecher eben. Dass es gute Gründe gab, auszubrechen - gerade wenn man vielleicht zu Unrecht hier saß oder etwas getan hatte, mit dem man sich den Aufenthalt in der Düsterburg nicht wirklich verdiente -, war ihr noch nicht in den Sinn gekommen. Langsam dämmerte da aber eben etwas, langsam wurde ein anfängliches Bewusstsein dafür geschaffen, wofür Ramirez und seine Frau kämpften. Oder gekämpft hatten.
Er hatte wahrscheinlich ehrenhafte Ziele und Ideale. Um Sinnbild einer Rebellion zu sein, musste man mehr als nur sich selbst im Sinn haben. Er wollte die Welt verbessern. Nicht nur für sich und seine Amira, sondern für alle.
Und am Ende war er in einem Haufen Fäkalien ums Leben gekommen.
Es blieb die Frage nach dem Wieso. Der Zettel, den sie gerade womöglich als erste zufällige Empfängerin in die Hände bekam, klang so zuversichtlich. Estaga musste sicher an seinen Ausbruch geglaubt haben. Nach all dem was sie hörte, war es ja nicht sein erster gewesen. Er hatte Erfahrung. Und dennoch war er nicht weit gekommen. Als diejenige, die ihn geborgen hat, wusste sie aber mehr. Es war vielleicht der glücklichste Zufall, dass gerade sie den Zettel gefunden hat. Denn sie konnte herausfinden, woran sein Plan letztlich gescheitert war.
Schon für die erste, stichhaltige Vermutung musste die 21-Jährige die Notiz nicht mehr als zwei Mal lesen. Abpumpen. An diesem Wort blieb sie hängen. Er schrieb, dass er das Abpumpen abwarten würde und es im Anschluss weiter ging. Doch was, wenn gar nichts abgepumpt wurde und genau dieser Umstand dann seine Todesfalle darstellte? Vielleicht war er in den ekligen Sud eingesunken und kam dann nicht mehr raus. Da er keine auffälligen Hilfsmittel mitnehmen konnte und durfte, hatte er nicht die Möglichkeit, sich aus seiner misslichen Lage befreien. Es brauchte erst ein naives Mädchen ohne Plan, das Monate später zu seiner Leichenstätte kommt und mit einem langen Stock im Abfluss herum fuchtelte, bis der Scheiß... - Ah, schon wieder! - ... bis die Fäkalien endlich weg gespült wurden.
Ihre Augen weiteten sich. In ihrem Blick lag etwas, das darin schon länger nicht mehr gelegen hatte. War es Hoffnung? Wenn sie Recht hatte, wäre eine Flucht jetzt vielleicht möglich. Sie hatte keine Ahnung, wie schwierig und anstrengend das war, wenn selbst ein Profi wie Estaga es als nicht einfach bezeichnete. Aber ein Vielleicht war doch besser als ein Nein, oder?
"Ist das ein Liebesbrief oder warum guckst du so?" Leighs Stimme klang als würde sie ferne Worte aufsagen, die gar nicht für die Floristin bestimmt waren. Das änderte sich jedoch. "Hallo? Leona!"
Die junge Frau sah auf, blicke vom Zettel zu ihrer Begleiterin und zurück. Natürlich würde sie das Wissen mit ihr teilen. Und so reichte sie Leigh wortlos Estagas letzte Notiz.