Auch, wenn mit Doktor Tod gestern ein weiterer Unschuldiger von ihnen gegangen war und sie das vermeintliche Schicksal KILAs erschrak, war die 'zarte Pflanze' doch erfreut, an diesem Morgen niemanden sonst verloren zu haben. Fast kurios, war ihr doch kaum jemand nah. Vor den meisten hatte sie - unabhängig davon ob Mörder oder nicht - Angst, und doch wollte sie keinen vermissen.
In 21 Jahren hatte Leona sich keine Gedanken über die Rebellion gemacht. Irgendwie war das immer so weit weg. Für ihre Eltern hätte es auch nicht weit genug weg sein können, so viel war sicher, doch sie hatte einfach keine Meinung dazu, wusste zu wenig. Vielleicht hat die Nation bewusst dafür gesorgt, dass man in den Gegenden, in denen es den Menschen gut ging, nicht zu viel von den Rebellen wahr nahm. Spätestens in der Düsterburg hatte sie aber erfahren, dass es da draußen nicht allen Menschen so gut ging wie ihr. Nicht jeder so behütet aufwachsen durfte. Dass sie nicht die Einzige war, die das Leben letztlich unfair behandelt hat und andere noch weniger Chancen bekommen hatten als sie.
Doch sie war jetzt hier und hatte noch etwas vor sich, bevor sie anfangen konnte, sich über die Welt, das große und ganze, Gedanken zu machen. Für den Augenblick war ihr Leben noch auf den Bunker beschränkt. Darauf, die Mörder ausfindig zu machen und vielleicht sogar hier heraus zu kommen.
***
Leigh hatte ihr den gut gemeinten Rat gegeben, sich von Erie fern zu halten. Die Floristin versuchte durchaus so gut, wie sie konnte, sich daran zu halten. Doch da sie nun mal alle in der Mensa waren, ließ sich der Kontakt kaum vermeiden. Neben ihrer engsten Vertrauten stehend, wurde Leona dann auch schnell von Mademoiselle Laureanne angesprochen. Gut - alle wurden angesprochen, doch wieder mal kam es ihr vor, als läge das Augenmerk der alten Frau besonders auf den beiden 21-Jährigen, bekamen sie doch auch eine separate Erwähnung in der Bitte der Französin.
Sie hatte noch immer keine Ahnung, was sie von dieser halten sollte. Sie stand offen zu etwas Bösem, das hatte sie eben gesagt. Was genau sie allerdings getan hatte, um den Aufenthalt in der Düsterburg zu verdienen, wusste Leona noch immer nicht. Streng genommen reichten ihr auch die Vermutungen, die sich ihr Kopf ausmalen konnte. Die waren schlimm genug.
Auf der anderen Seite war da das Gefühl, dass irgendetwas Gutes in der Dame steckte. Sicherlich verborgen hinter einem unansehnlichen Äußeren, einer unangenehmen Strenge und ein paar Schichten Bösartigkeit. Doch da war doch auch noch dieses seltsame, kurze Zusammentreffen am gestrigen Tag. Spielte die gefühlte Chefin der Hydroponik nur ein Spiel mit ihr oder lag ihr wirklich etwas an Leona?
Gerade als die Blondine wieder unter dem Blick der Frau einzubrechen drohte und Gefahr lief, sich nicht an den Tipp Leighs zu halten, schien ihr Anführer sich freiwillig zu melden. Okay - wenn man ihm ins Gesicht sah, schaute er nicht sonderlich freiwillig drein - eher als hätte er nicht gewusst, auf was er sich gerade eingelassen hatte. Als wäre er mehr zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Und auch, wenn Mr. Boyle ihr ein bisschen Leid tat, konnte er sich wahrscheinlich besser gegen den seltsamen Charme der Mutter dieses Zitronenbäumchens wehren.
Etwas beruhigt wandte sie sich also an die neben ihr Stehende.
"Leigh?", machte die Tochter der berüchtigten Pettys auf sich aufmerksam. "Hättest du vielleicht... Lust, mit mir die Mensa zu schmücken?" Wahrscheinlich dachte die Gleichaltrige sich gerade, ob Leona spinnen würde. Hier drinnen wurde man nicht gerade zu einem Freund von Patriotismus erzogen und es schien auf Anhieb viele wichtigere Dinge zu geben, die man hätte angehen können. Doch ihr selbst gefiel der Gedanke, zur Abwechslung etwas zu tun, worin sie gut war. Und dazu zählte das Schmücken und Verzieren definitiv. Zudem war es eine Anweisung der neuen KILA. Und die junge Frau hatte die Ahnung, dass diese - oder besser: Dieser - nicht so sehr auf ihrer Seite kämpfen würde, wie es die Vorgängerin getan hat. Die arme Vorgängerin, die nun ebenfalls ihrem Tod entgegen blicken musste. Und das nur, weil sie ihnen half?
Wer auch immer sie jetzt überwachte, würde es bestimmt gerne sehen, wenn sie den Präsidententag angemessen ehrten. Und vor diesem jemand gut dar zu stehen, brachte vielleicht das Vertrauen ein, das man den Verwaltern dieses Gefängnisses vorgaukeln musste, wenn man weiter in Ruhe an einer Lösung des Problems arbeiten wollte.
Leona kam sich schon viel zu verschwörerisch für ihren eigenen Geschmack vor. Ihre Eltern hätten ihr gesagt, dass sie sich mit den falschen Leuten umgab. Leigh zum Beispiel. Doch vielleicht wusste sie auch gerade deswegen, dass es das Richtige war.
"Wenn du etwas Besseres zu tun hast, will ich dich davon nicht abhalten. Aber zu zweit geht die Arbeit schneller und... ich fühle mich besser, wenn du in der Nähe bist."