Schnellen Schrittes - also, so schnell wie sie eben konnte - eilte Erie in die Küche. Dort fand sie allerdings gerade niemanden vor. Den euphorischen Lachern von Matt nach zu schließen, arbeitete ihr Untergebener gerade in der Mensa mit den Giften. Gut so. Erie ließ die Hand in Ihre Tasche gleiten. Sie hatte den goldenen Ring von der Kette gelöst und den Ring sicher an sich genommen. Das würde ja wohl nicht schaden können. Unter dem grellen Licht der Küchenbeleuchtung warf sie einen Blick auf den Goldring. Er hatte die Jahre in der Kanalisation gut überstanden. Innen konnte man sogar noch eine kleine Gravur sehen. "Für Ramirez, meinen Rebellenkönig".
Lächelnd verschwand das Kleinod wieder in der Tasche und Erie lief langsam in die Mensa, wo Matt ihr stolz von seinen Erfolgen berichtete. Ein guter Junge. Während Matt berichtete, stellte Leroy die Frage zu den Pflanzen in den Raum.
"Wenn sich herausstellt, dass die Kresse auf eine der Substanzen nicht reagiert, können wir dann noch eine andere Substanz mit derselben Pflanze testen, oder würde das Ergebnis durch das Vermischen verfälscht?"
"Gute Frage, Leroy. Ich... ähm, ich schaue mal kurz nach... Mh... Ich denke, ihr solltet jede Pflanze nur einmal benutzen, es kann sein, dass die Substanzen sich sonst vermichen, sich entzünden oder...ähm... explodieren."
"EXPLODIWAS?"
"Explodieren. Das sind gefährliche Stoffe, Matt. Du trägst doch Handschuhe, oder?"
Es hingen zwar an jeder Ecke Kameras, aber KILAs sorgenvoller Ton war nicht zu überhören. Matt blickte auf seine nackten, rotgesprenkelten Hände.
"Ähm... klar, Babe."
"Was sollen wir eigentlich genau mit der Pflanze machen?"
"Das geht aus Trumpedia leider nicht so genau hervor, aber ich würde sagen, dasselbe wie mit dem Salz. Einfach daraufwerfen und hoffen."
"Das klingt nicht gerade vielversprechend."
"Tut mir Leid, Miss Laureanne... ich habe Chemie abgewählt... und...."
Hatte Erie gerade wirklich eine unerreichbare Computerstimme eingeschüchtert?
"Jedenfalls, wir konnten schon zwei von den Giften ausschließen, und mit ein bisschen Glück haben wir es bald geschafft!"
"Mit ein bisschen Glück und wenn du dich konzentrierst."
Erie atmete kurz und scharf ein, und Matt war sich nicht sicher, ob das aufmunternd oder ermahnend gemeint war. Vielleicht auch beides. Dann wandte sie sich um. Mit einem Lächeln legte die ältere Dame die goldene Gliederkette vor Leroy auf den Tisch.
"Ich habe gehört, Gold kann Ihnen zu nutze sein?"
"Oh, gei... ähm... ich meine, perfekt, das können wir gleich brauchen, wenn Boyle uns endlich das Grünzeug vorbeigebracht hat."
Leroy dagegen ging stumm noch einmal die Aufzeichnungen und Anweisungen durch, die KILA ihnen am Morgen gegeben hatte. Mit einer gerunzelten Stirn blickte er auf die feine Gliederkette, die Erie auf den blankpolierten Mensatisch gelegt hatte. Das würde nicht reichen. KILA hatte ausdrücklich gesagt, dass sie mindestens Gold mit einem Gewicht von mehr als 10 Gramm brauchen würden. Das hier war maximal die Hälfte. Aber würde er das der stolz und mütterlich lächelnden Küchenchefin auch sagen?
--------
Linn wartete noch kurz, aber KILA gab keine Antwort. Vielleicht war sie schon bei der nächsten Gruppe von Inhaftierten? Oder sie hatte gar nicht richtig zugehört und nur pro forma gefragt. Aber hätte sie nicht eigentlich sehen müssen, dass sie ein Handy gefunden hatten? Dr. Tod war mit dem Gerät, das mindestens so alt war wie er, durch mindestens sechs Überwachungskameras gelaufen?
Der Gedanke von Linn wurde rüde unterbrochen, als sich die Tür zum Privatbereich mit einem Rauschen öffnete. Eine kurze Handbewegung vor dem Sensor, und Linn wurde offenbar ohne Probleme anerkannt. Nach kurzer Suche war dann auch die Tür zur Zelle des Hydroponikleiters gefunden. Sie war eindeutig kleiner und schmuckloser als die Zelle des Don. Was Linn beim Betreten auffiel - es war unmöglich, die Tür zu verschließen. Natürlich trennte die große Sensortür die vier Privatzellen vom öffentlichen Bereich, aber theoretisch konnte man ohne Probleme in die Zelle des Don - oder, besser gesagt, Boyles Zelle - spazieren. Was Linn aber nicht tat. Es war besser, es sich nicht mit dem Hauptmann zu verscherzen. Und die eigene Zelle reichte auch erst einmal mehr als genug aus.
Der Raum wirkte schon viel eher wie eine richtige Zelle. Es gab ein schmuckloses Einzelbett in der Ecke, dass aber immerhin mit einer sehr dick wirkenden Matratze auftrumpfte. Linn erinnerte sich gerne an den alten Chef der Hydroponik - ein runzeliges, altes Männchen, das nun wirklich so gar nicht in die Düsterburg passte, und irgendwie trotzdem von allen Angestellten respektiert wurde. Er war ein guter Anführer seiner kleinen Gruppe, beliebt und geschätzt, und irgendwann war er einfach tot. Er war einer der ersten Opfer, und doch - irgendetwas an seinem Tod war komisch. Denn er wurde nicht einfach morgens tot aufgefunden, sondern man fand ihn am hellichten Tag (oder was im Bunker als "hellichter Tag" durchging) erhängt im Gang. Seitdem war die Stelle des Hydroponikleiters vakant, und niemand hatte seine Zelle danach betreten.
Als Linn mit dem Finger über die zwei kleinen Aktenschränke an der hinteren Wand strich, bewegte sich etwas unter der dicken Staubschicht. Ein kleiner Zettel, beschrieben mit Tinte, die fast schon verblasst war.
Entweder war ihm nach dem letzten Wort endgültig die Tinte ausgegangen - oder er wurde unterbrochen...Zitat
--------
Gerade, als Lionel Boyle, oder mittlerweile Hauptmann Boyle, wie er sich selbst nennen durfte, den letzten Pflanzkübel abgeerntet hatte, schaltete sich ein einziger Lautsprecher in seiner Nähe ein. Er war alleine in der Hydroponik. KILA hatte den Moment wohl abgewartet, bis sonst niemand die beiden hören konnte.
"Mr. Boyle... Lionel... ich weiß, es ist nicht leicht, aber der Tag neigt sich dem Ende zu und ich verzeichne noch nicht eine einzige Stimme. Ich... also... wenn sich alle Insassen weigern, abzustimmen, dann stirbt an dem Abend niemand, aber wir haben ja schon einmal berechnet, dass das nur den Mördern hilft. Ich kann euch heute Nacht nicht noch einmal beschützen, ich... ich... muss euch leider auch drängen, jemanden zu wählen. Es ist auch nur mein Job."
Sie klang mittlerweile fast schon flehend. Als wäre es nicht nur ihr eigener Wunsch, dass sie jemanden hinrichten.
"Bitte?"