Wohl nur der schleimige Morast verhinderte, dass ihr spitzer Schrei durch die Anlage hallte. Was allerdings verhinderte, dass sie sich noch nicht erbrochen hatte, konnte Leona nicht genau bestimmen. Vielleicht war es ihr Glück, dass sie bisweilen noch nicht gegessen hatte. Vielleicht war sie einfach so sehr mit Adrenalin voll gepumpt, dass ihr Körper auf diese Idee gar nicht kam.
Die größere Überraschung aber war das, was sie nach dem gestrigen Tage vielleicht gar nicht mehr hätte überraschen sollen. In dem kurzen Moment, in dem ihr Leben gefühlt am seidenen Faden zu hängen schien und sie drohte, mit dem Fass gemeinsam in Richtung Abfluss zu saugen - den sie sich im Eifer ihrer Angst so groß vorstellte, dass er beides problemlos hätte schlucken können -, hörte sie Leigh hinter sich auftauchen und sah bei einem Blick in ihre Richtung schon den Gartenschlauch in unmittelbarer Nähe, während das Fass nun konsequent herabsank und die Blondine sich beeilen musste, wenn ihre Visionen sich nicht in die Tat umsetzen sollten.
Ein Blick zurück auf die Überreste Estagas. Tasche oder Skelett? Tasche oder Skelett? Es war keine Zeit, um zu lange darüber nach zu denken und doch kam Leona sich vor, als würde sie eine Ewigkeit brauchen. Abwägend sah sie die beiden Güter an.
Das Skelett - das Kettchen war bestimmt einiges wert, und Gold brauchten sie ja immerhin, um das Gift zu testen.
Die Tasche - der Inhalt war unbekannt. Es könnte sich also sowohl um etwas vollkommen Unnützes als auch etwas viel Wertvolleres handeln. Immerhin hatte der Ausbrecherkönig geplant, diese Sachen mit auf seine letzte Reise nach draußen zu nehmen. Doch wer garantierte ihr, dass sie nicht schon längst vom Mist hier zerfressen worden waren? Außerdem hatte Erie sie hier herunter geschickt, damit die Leiche eben nicht mehr hier war, um den Behälter und damit den Dünger zu verunreinigen. Das war der Plan, also musste sie ihm auch folgen.
"Jetzt halt dich fest, Leona!", rief ihre erneute Retterin ihr zu. In einer anderen Situation hätte die Floristin den Ton wohl für sehr schroff gehalten, doch in ihm lag letztlich nur das Bewusstsein, dass sie schnell sein mussten, wenn die Blondine eben nicht Opfer des Schlunds unter ihr werden wollte und sollte.
So griff sie eilig nach den Leichenteilen, froh darüber, dass der zerrissene und zerfetzte Mantel das Skelett im Großen und Ganzen zusammen hielt und es nicht in seine über 200 Einzelteile zerbrach. Sie zog diesen ehemaligen Körper an sich und das Fass heran, presste ihn dann - sich immer noch der Vorstellung hingebend, es wäre nur ein nachgebautes Schulskelett - mit einer Hand an sich heran und drehte sich erneut um, um dem mittlerweile gefährlich tief gesunkenen Fass per Griff an den von Leigh dargebotenen Gartenschlauch zu entkommen.
Ihre Finger waren nicht gewohnt, sich so fest an etwas zu pressen. Das letzte Mal als sie sich mit so viel Kraft in etwas gekrallt hatte, war es das Kissen über dem Kopf von Mr. Kline gewesen, den sie so mit Tränen in den Augen und ganz und gar widerwillig erstickt hatte. Dieses Mal ging es um ihr eigenes Leben, doch für Tränen war sie zu aufgeregt. So aufgeregt sogar, dass es ihr für den Moment egal wurde, dass ihr Schutzengel sie durch den schleimigen Dreck zog und so gegen den Sog anzukämpfen versuchte. Was kümmerte sie selbst der fürchterlichste Gestank und ein Kleid, welches sie wohl nie wieder sauber bekommen würde, wenn sie diese Mission dafür heil überstand?
Noch war dieser Moment aber nicht gekommen. Leigh zog zwar kräftig und schaffte es noch, stärker zu sein als das einsinkende Schlammgewässer, doch ging es schleppend voran - auch, da Leona selbst nicht mehr tun konnte als sich mit der einen Hand fest zu halten. Nicht, solange sie ihren Fund nicht freigab. Nach diesen Anstrengungen wollte sie nicht mit leeren Händen zurückkehren. Sie würde dieses Abenteuer nicht überleben, um anschließend von der Mademoiselle tot geprügelt zu werden, weil sie außer einer geballten Ladung Schleim und üblem Gestank nichts mit sich brachte.
Endlich spürte die Blondine dann, dass es aufwärts ging. Inzwischen war sie fast direkt unterhalb der mittlerweile erhöhten Plattform zurück zum Schacht, auf der sich die Unterstützung befand und zum Endspurt anlegte, so kräftig zog wie Leona in drei Leben nicht hätte ziehen können. Doch wohl angespornt durch das Leben, was sie retten konnte, gelang es Leigh nicht nur, sie bis zur Kante des Behälters zu hieven, sondern sich dort so zu bücken, dass sie nach dem dreckigen Arm greifen und weiter zerren konnte. Unter normalen Umständen hätte das vielleicht geschmerzt, doch es war einfach nur eine riesige Welle an Erleichterung, die die junge Frau durch ihren Leib fahren spürte, als sie wieder festeren Grund unter ihrem Bauch vernahm und von diesem wunderbaren Menschen in Sicherheit gezogen worden war. Auch, wenn sie sich unfähig sah, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen und für den Moment nur wie ein bemitleidenswertes und vor allem dreckiges Stück Elend am Boden liegen blieb, heftig atmete und die Überreste Estagas fast verkrampft an ihre Brust presste.








