"Ich brauche Jemanden, der schlank und dünn genug ist und mit mir in die Hydroponik geht, um eine Leiche aus dem Abortschacht zu bergen."
Warum hatte Leona nur das schrecklich einnehmende Gefühl, dass die Augen der ältesten weiblichen Insassin der Düsterburg nur auf ihr lagen? De facto sprach sie doch mindestens zwei weitere Personen an, die allerdings taten als würden sie kaum hin hören und sich damit klüger verhielten als die Floristin selbst. Die blickte nämlich offen und - erwartungsgemäß - schüchtern in Richtung der Frau. Sie war doch am gestrigen Tage nicht von Leigh gerettet worden, um nun doch selbst in den Schacht kriechen zu müssen? Immerhin schien die es überlebt zu haben. Die etwas gleich junge Frau wirkte aber auch wesentlich robuster als Leona. Wer tat das nicht?
Dennoch - spätestens als die Blicke der beiden so unterschiedlichen Damen sich trafen, wusste die 21-Jährige, dass sie die Aufforderung der Französin nicht würde ausschlagen können, wollte sie sich diese doch nicht als Feindin gewinnen und am Ende sogar berechtigte Angst vor der alten Frau haben müssen. Die Blondine warf also einen kurzen Blick zu beiden Seiten, vielleicht wollte sich ja doch noch jemand erbarmen und sie erneut vor der Aufgabe retten. Irgendjemand? Nein? Okay.
So trat Leona einige Schritte auf Erie zu und lächelte sie höflich an, bot - wie schon gestern - ihre Hilfe an. Doch erst da kehrte ein Detail zurück, das sie bislang irgendwie nicht bewusst wahr genommen hatte. Zu beschäftigt war sie mit der ohnehin schon unschönen Vorstellung, wie sie durch Fäkalien robben musste, und das in wahrscheinlich sehr engem Raum. Aber hatte sie nicht auch 'Leiche' gesagt?
"Mademoiselle Laureanne, es tut mir Leid, nachfragen zu müssen. Aber was soll noch gleich geborgen werden?" Sie hoffte stark, sich womöglich nur verhört zu haben. In ihrem Kopf ging sie in den Bruchteilen der Sekunden bis zur Antwort auf ihre Frage durch, was es sonst hätte sein können. Was klang ähnlich wie 'Leiche'? Ihr wollte schlichtweg nicht ein einziges solches Wort einfallen. Und dann erwiderte ihre Quasi-Chefin auch schon. "Die Frage ist viel mehr: 'Wer?', Liebes!", fiel die Antwort zum Unmut Leonas aus. In freundlichen, in der Vergangenheit schwelgenden Worten erzählte die 55-Jährige ihr von Señor Estaga und seinem vermeintlichen Ausbruch und brachte ihr - so viel musste man ihr lassen - schonend bei, dass sie wirklich eine Leiche zu bergen hatte.
Zahlreiche üble Gedankenspiele zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Wie sie kriechend in der Enge des Schachtes auf einen weiteren Toten treffen würde. Davon hatte sie spätestens gestern genug gesehen. Wird er überhaupt noch... zu sehen sein oder hat die Verwesung ihr Übriges getan und sie würde lediglich auf die verkommenen, verschmierten Reste seiner ehemaligen Besitztümer stoßen? Das zarte Geschöpft hatte keine Ahnung, wie sich Leichen verhielten, erst Recht nicht, wenn sie zufällig an so einem Ort gelagert wurden, an dem sie aus welchen Gründen auch immer ums Leben gekommen sind. Und sie hatte wohl auch gehofft, dass solche Fragen sich nie beantworten würden.
Trotz dieser grausigen Vorstellungen und ihrer Furcht vor dem Unbekannten, auf das sie im Schacht stoßen würde, war die Angst, Erie zu enttäuschen, doch größer. Seit sie hier war, war Leonas Leben dominiert von dieser Angst vor anderen. Dieses Gefühl spielte seit Anbeginn ihres Aufenthalts in der Düsterburg für sie eine so große Rolle, dass man meinen könnte, die 21-Jährige hätte es als einen ihrer persönlichen Gegenstände ausgewählt. Und offenbar wichtig genug, um sie in die verrücktesten Situationen zu bringen. Wie die, in ein Abwassersystem zu kriechen und den Körper von einem lange Verstorbenen zu bergen, angeleitet von einer in die Jahre gekommenen Frau, die wahrscheinlich irgendwas Übles auf dem Kerbholz hatte.
Hoffentlich wusste die Seele vom einsamen Mr. Kline aus dem St. Remedy Hospital zu schätzen, welche Opfer sie seit jenem folgenschweren Tag für ihn erbracht hatte.