Oh boy, where to start. Nein. Wovon du sprichst, sind Tropes. Tropes sind keine Charaktere, Tropes sind standardisierte Templates für häufig auftretende Charaktere. Es gibt Genres, die besser mit vereinfachten arbeiten als andere (Comedy beispielsweise), aber das ist eher die Ausnahme denn die Regel. Vor allem sollte man nicht reduzieren, wenn man noch nicht weiß, an welcher Stelle man mit der Vereinfachung ansetzen muss.
Charaktere können so detailiert, ausgearbeitet sein wie nötig. Nötig, weil natürlich nicht jeder Heinz der als NPC in der Ecke steht eine Backstory braucht oder die jemand interessiert. Gerade tragische Charaktere müssen aber mehr sein als eine Trope, eben weil das Publikum nicht auf billiges Dosendrama hereinfällt. Es ist unerheblich was einem Charakter Schreckliches widerfährt, wenn er keinerlei Tiefe aufweist.
Tropes können helfen eine Grundausrichtung für einen Charakter zu finden und nicht in häufige Fallen im Storytelling zu tappen (Mary Sue, strahlender Waisenheld der mit 14 Schwertmeister wird, the usual). Aber gute Charaktere sind mehr als eine Trope und haben wenn nicht tausend, so zumindest eine ganz Hand voll Facetten.
Obwohl es generell eine gute Idee ist Arbeiten von anderen zu beobachten und auszuwerten, sollte man viel mehr analysieren, was die Charaktere ausmacht, statt sie nachzubauen und Feierabend zu machen. Und die Konstruktion eines eigenen Charakters ist nicht mit "die gleiche Arbeit (die andere gemacht haben) nochmal machen" gleichzusetzen, es sei denn man betriebt Plagiarismus. Ein Charakter muss in seine Story passen, ihn einfach zu kopieren funktioniert nicht.
So, Wege eine tragische Figur zu erstellen, die im regulären Fall Mitleid erweckt (ich sage im regulären Fall, weil du dich darauf einstellen kannst, dass es immer jemand geben wird, der deinen tragischen Charakter nicht nachvollziehen kann und seine Trauer für Mimimi hält). Das ist mein grobes Vorgehen, es gibt tausend Wege, manche davon liegen dir vielleicht mehr, andere weniger. Beim Storytelling ist generell wichtig, dass du eine eigene Vorgehensweise für dich findest. Aber vielleicht hilft dir das weiter:
1. Zunächst musst du dir einmal klar werden, wo die Tragik deiner Figur herkommt, von innen oder von außen. Ist die Person nur in schwierige Umstände geraten, mit denen sie umgehen muss oder an denen sie nur scheitern kann? Oder liegt die Tragik in der Person selbst begründet, weil sie charakterliche Makel hat, die eine "normale" (glückliche, sorgenfreie) Existenz unmöglich machen?
Sowohl für äußere als auch für innere Konflikte und Mischungen daraus gibt es zahllose Möglichkeiten. Das kann von kleinen, interpersonellen Problemen, zum Beispiel schwere Konflikte mit den Eltern, über generelle Eingliederungsprobleme in der Gesellschaft wegen X Grund zu generellen gesamtgesellschaftlichen Problemen wie Armut, politische Konflikte, Kriege ect. reichen. Innere Konflikte können Charakterfehler wie Rachsucht, Cholerik, mangelnde Empathie, mangelnde interpersonelle Skills, Schüchternheit, von kleinen Charaktereigenheiten bis zur dunklen Triade (Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie) eigentlich alles sein.
2. Wie sieht das Leben und der Charakter der Person aus in allen Belangen, die NICHT durch den tragischen Konflikt definiert werden? Was ist mit Freunden, Familie, Beziehungen, Jobs, Hobbys ect. Wie sieht das normale Leben des Charakters aus, was macht ihn aus, was fällt Menschen (außer den konfliktstiftenden Details) auf, wenn sie den Charakter das erste Mal sehen? Was macht den Charakter generell sympathisch, was absolut nichts mit den tragischen Komponenten zu tun hat?
3. Wie sieht das Leben des Charakters DURCH den tragischen Konflikt aus? Welche direkten Auswirkungen hat das tragische Element auf das Leben des Charakters, welche Einbußen erleidet der Charakter dadurch? Wie geht der Charakter damit um? Wir der Charakter sympathischer dadurch, wie er mit der Tragik umgeht, oder muss er die Tragik durch andere Charakterzüge ausgleichen, weil er nicht gut damit umgeht? Die Standardwege sind hier, entweder einen Charakter zu definieren der eigentlich ein sympathischer Mensch ist, der durch die tragischen Umstände aber in Konflikte gerät. Andersherum könnte dein Charakter keine besonders sympathische Person sein, aber mit den tragischen Umständen auf eine Art umgehen, die trotzdem Mitleid weckt.
4. Auf welche Art soll die Tragik des Charakters durchlebt und am Ende geschlossen werden? Kann der Charakter am Ende besser mit dem tragischen Element umgehen? Löst er den zugrunde liegenden Konflikt auf? Scheitert er durch persönliche Schwäche oder durch äußere Einflüsse? Was soll am Ende die Aussage des Charakters sein, was soll seine Geschichte erzählen?
Zum Schluss: Wichtig für eine Situation, die Mitleid erregt, ist neben der Nachvollziehbarkeit der Situation und der generellen, nennen wir es mal Likeability des Charakters, dass das tragische Element sich nicht mit fünf Minuten Nachdenken oder einem einzelnen Gespräch lösen lässt. Dosendrama entsteht vor allem dann, wenn der Intellekt der handelnden Charaktere auf Knäckebrot herunter geschraubt werden muss, um den Konflikt andauernd bestehen zu lassen.
Zudem sollte eine Entwicklung stattfinden, wenn der Charakter sich durchgängig mit dem selben Problem auf die gleiche Weise beschäftigt, nie dazu lernt und nie etwas anders angeht, stagniert die Handlung. Deshalb muss der Charakter am Ende nicht besser mit der Situation fertig werden (vielleicht wird auch alles immer schlimmer!), aber es muss Bewegung drin sein.
Generell ist bei der Charaktererstellung, egal für welches Medium, wesentlich, dass du eine Grundvorstellung von der Rolle des Charakters in der Story bekommst und diese dann weiter verfeinerst. Starte am besten mit einer groben Outline, was der Charakter in der Story bewirkt und welche Rollen er einnehmen wird, zum Beispiel:
- Vater der Hauptperson
- Mentor eines Freundes der Hauptperson
- taucht an Stelle X auf
- tritt Handlungen X und Y los
- ist ab Abschnitt Z nicht mehr relevant für die Story, wird zum Nebencharakter/verschwindet nach A/stirbt/verpufft/wird nackig in eine Grube gestopft und dort von einer Riesenspinne gefressen
Hat man einen Überblick, was der Charakter in der Story überhaupt zu suchen hat, kann man weiter ausarbeiten, welche Charakterzüge diese Rollen unterstützen und welche ihnen entgegen stehen, beide Seiten bieten Potential für Konflikt, ansonsten siehe auch Punkt 2, was macht der Charakter sonst, wenn er nicht gerade die vorgegebene Handlungsrolle spielt.