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Thema: Character Challenge

Hybrid-Darstellung

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  1. #1

    Character Challenge

    Hi, ich habe meine Frage schon einmal in einem anderen Themenbereich angefangen, aber möchte das gerne ausgiebiger diskutieren. Sicherlich hilft es auch anderen. Ich feile an meinen Charakteren und würde gerne hier in diesem Themenbereich brainstormen, wie man am besten zu seinen eigenen RPG Charakteren und deren Eigenschaften und Merkmalen findet. Meine ersten Ansätze sind bisher:

    - Pesonen aus dem realen Umfeld ansehen und einzelne Merkmale herauspicken (Besonderheiten und auch normale Alltagseigenschaften)
    - es gibt nichts, was es nicht schon einmal gegeben hat, deshalb nicht verzagen, wenn die Charaktere Ähnlichkeiten zu anderen haben

    Also, ich würde mich freuen, wenn wir hier weiter darüber diskutieren könnten

    Ich arbeite momentan verstärkt an einer traurigen Figur (also der Gamer soll sie bemitleidenswert finden). Wie stelle ich das am besten an? Ist es allein die Story um die Figur herum, die Melancholie hervorruft oder kann man der Figur selbst etwas Tragik einverleiben? Wenn ja, wie?

    Danke und Grüße

  2. #2
    Ich persönlich kann nur immer wieder empfehlen sich mit der wunderbaren Webseite TvTropes auseinander zu setzen. (Link: http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/Characters )
    Es ist die wahrscheinlich größte Sammlung von Informationen zu Themen der Mediengestaltung. Du findest dort Auflistungen von allerlei Eigenschaften, welche ein Charakter besitzen kann mit dutzenden von Beispielen zu den meisten Tropes.

    Hier ein paar Seiten, welche besonders dabei helfen könnten Heldentruppen zu gestalten:
    http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/CastCalculus
    http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/FiveManBand
    http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.ph...dventurerIsYou
    http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.ph...aracterClasses

  3. #3
    Ich hab den Thread mal verschoben.

    @Challanger
    So wie Geschichten meistens nur Zerrbilder der Realität sind, sind ihre Figuren keine realitätsnahen Menschen mit ihren tausend Facetten, sondern - je nach Geschichte mal mehr, mal weniger - vereinfachte bzw. überzeichnete Abbildungen davon. Und diese Abbildungen haben vor dir schon sehr viele andere gemacht. Wäre es nicht einfacher, dich an ihren Beispielen zu orientieren, anstatt die gleiche Arbeit nochmal zu machen? Was ich damit sagen will: Du könntest dich doch einfach an Figuren aus Geschichten orientieren, die in deine Richtung gehen.

    Zitat Zitat
    es gibt nichts, was es nicht schon einmal gegeben hat, deshalb nicht verzagen, wenn die Charaktere Ähnlichkeiten zu anderen haben
    Ich sag sogar: Sie müssen Ähnlichkeiten haben, denn wir Menschen denken in Mustern. Es gibt bestimmte Archetypen (und die stecken hinter jeder Figur), die wir interessant und sympathisch finden. Wenn wir die in einer Figur wiedererkennen, ist das schon die halbe Miete. Natürlich unterscheiden sich die Geschmäcker, deswegen musst du schauen, wen du mit deiner Figur erreichen willst.

    Zitat Zitat
    Ich arbeite momentan verstärkt an einer traurigen Figur (also der Gamer soll sie bemitleidenswert finden). Wie stelle ich das am besten an? Ist es allein die Story um die Figur herum, die Melancholie hervorruft oder kann man der Figur selbst etwas Tragik einverleiben? Wenn ja, wie?
    Eigentlich hat man ja dann Mitleid mit einer Figur, wenn ihr etwas Schlimmes widerfahren ist. Es hat also immer direkt mit der Figur zu tun.

    Das ist jetzt nur meine persönliche Meinung: Mit einer bemitleidenswerten Figur bewegst du dich schon auf einem schmalen Grat. Es kann leicht passieren, dass der Charakter so wirkt, als wäre er einer Seifenoper entsprungen oder dass er übertrieben leidet und im Selbstmitleid zerfließt (das wäre für mich zum Beispiel ein Hasscharakter). Ich nehme mal an, dass du ein Spiel machen möchtest, sonst hättest du nicht im Makerforum gepostet, und in einem Spiel finde ich solche Figuren eher unpassend, weil ich selbst lieber positive Figuren spiele. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber ich sag das erst mal pauschal, weil ich nicht weiß, was genau für ein Spiel du machen möchtest.

  4. #4
    Zitat Zitat von Kelven Beitrag anzeigen
    So wie Geschichten meistens nur Zerrbilder der Realität sind, sind ihre Figuren keine realitätsnahen Menschen mit ihren tausend Facetten, sondern - je nach Geschichte mal mehr, mal weniger - vereinfachte bzw. überzeichnete Abbildungen davon.
    Oh boy, where to start. Nein. Wovon du sprichst, sind Tropes. Tropes sind keine Charaktere, Tropes sind standardisierte Templates für häufig auftretende Charaktere. Es gibt Genres, die besser mit vereinfachten arbeiten als andere (Comedy beispielsweise), aber das ist eher die Ausnahme denn die Regel. Vor allem sollte man nicht reduzieren, wenn man noch nicht weiß, an welcher Stelle man mit der Vereinfachung ansetzen muss.

    Charaktere können so detailiert, ausgearbeitet sein wie nötig. Nötig, weil natürlich nicht jeder Heinz der als NPC in der Ecke steht eine Backstory braucht oder die jemand interessiert. Gerade tragische Charaktere müssen aber mehr sein als eine Trope, eben weil das Publikum nicht auf billiges Dosendrama hereinfällt. Es ist unerheblich was einem Charakter Schreckliches widerfährt, wenn er keinerlei Tiefe aufweist.

    Tropes können helfen eine Grundausrichtung für einen Charakter zu finden und nicht in häufige Fallen im Storytelling zu tappen (Mary Sue, strahlender Waisenheld der mit 14 Schwertmeister wird, the usual). Aber gute Charaktere sind mehr als eine Trope und haben wenn nicht tausend, so zumindest eine ganz Hand voll Facetten.

    Zitat Zitat von Kelven Beitrag anzeigen
    Wäre es nicht einfacher, dich an ihren Beispielen zu orientieren, anstatt die gleiche Arbeit nochmal zu machen? Was ich damit sagen will: Du könntest dich doch einfach an Figuren aus Geschichten orientieren, die in deine Richtung gehen.
    Obwohl es generell eine gute Idee ist Arbeiten von anderen zu beobachten und auszuwerten, sollte man viel mehr analysieren, was die Charaktere ausmacht, statt sie nachzubauen und Feierabend zu machen. Und die Konstruktion eines eigenen Charakters ist nicht mit "die gleiche Arbeit (die andere gemacht haben) nochmal machen" gleichzusetzen, es sei denn man betriebt Plagiarismus. Ein Charakter muss in seine Story passen, ihn einfach zu kopieren funktioniert nicht.

    So, Wege eine tragische Figur zu erstellen, die im regulären Fall Mitleid erweckt (ich sage im regulären Fall, weil du dich darauf einstellen kannst, dass es immer jemand geben wird, der deinen tragischen Charakter nicht nachvollziehen kann und seine Trauer für Mimimi hält). Das ist mein grobes Vorgehen, es gibt tausend Wege, manche davon liegen dir vielleicht mehr, andere weniger. Beim Storytelling ist generell wichtig, dass du eine eigene Vorgehensweise für dich findest. Aber vielleicht hilft dir das weiter:

    1. Zunächst musst du dir einmal klar werden, wo die Tragik deiner Figur herkommt, von innen oder von außen. Ist die Person nur in schwierige Umstände geraten, mit denen sie umgehen muss oder an denen sie nur scheitern kann? Oder liegt die Tragik in der Person selbst begründet, weil sie charakterliche Makel hat, die eine "normale" (glückliche, sorgenfreie) Existenz unmöglich machen?

    Sowohl für äußere als auch für innere Konflikte und Mischungen daraus gibt es zahllose Möglichkeiten. Das kann von kleinen, interpersonellen Problemen, zum Beispiel schwere Konflikte mit den Eltern, über generelle Eingliederungsprobleme in der Gesellschaft wegen X Grund zu generellen gesamtgesellschaftlichen Problemen wie Armut, politische Konflikte, Kriege ect. reichen. Innere Konflikte können Charakterfehler wie Rachsucht, Cholerik, mangelnde Empathie, mangelnde interpersonelle Skills, Schüchternheit, von kleinen Charaktereigenheiten bis zur dunklen Triade (Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie) eigentlich alles sein.

    2. Wie sieht das Leben und der Charakter der Person aus in allen Belangen, die NICHT durch den tragischen Konflikt definiert werden? Was ist mit Freunden, Familie, Beziehungen, Jobs, Hobbys ect. Wie sieht das normale Leben des Charakters aus, was macht ihn aus, was fällt Menschen (außer den konfliktstiftenden Details) auf, wenn sie den Charakter das erste Mal sehen? Was macht den Charakter generell sympathisch, was absolut nichts mit den tragischen Komponenten zu tun hat?

    3. Wie sieht das Leben des Charakters DURCH den tragischen Konflikt aus? Welche direkten Auswirkungen hat das tragische Element auf das Leben des Charakters, welche Einbußen erleidet der Charakter dadurch? Wie geht der Charakter damit um? Wir der Charakter sympathischer dadurch, wie er mit der Tragik umgeht, oder muss er die Tragik durch andere Charakterzüge ausgleichen, weil er nicht gut damit umgeht? Die Standardwege sind hier, entweder einen Charakter zu definieren der eigentlich ein sympathischer Mensch ist, der durch die tragischen Umstände aber in Konflikte gerät. Andersherum könnte dein Charakter keine besonders sympathische Person sein, aber mit den tragischen Umständen auf eine Art umgehen, die trotzdem Mitleid weckt.

    4. Auf welche Art soll die Tragik des Charakters durchlebt und am Ende geschlossen werden? Kann der Charakter am Ende besser mit dem tragischen Element umgehen? Löst er den zugrunde liegenden Konflikt auf? Scheitert er durch persönliche Schwäche oder durch äußere Einflüsse? Was soll am Ende die Aussage des Charakters sein, was soll seine Geschichte erzählen?

    Zum Schluss: Wichtig für eine Situation, die Mitleid erregt, ist neben der Nachvollziehbarkeit der Situation und der generellen, nennen wir es mal Likeability des Charakters, dass das tragische Element sich nicht mit fünf Minuten Nachdenken oder einem einzelnen Gespräch lösen lässt. Dosendrama entsteht vor allem dann, wenn der Intellekt der handelnden Charaktere auf Knäckebrot herunter geschraubt werden muss, um den Konflikt andauernd bestehen zu lassen.

    Zudem sollte eine Entwicklung stattfinden, wenn der Charakter sich durchgängig mit dem selben Problem auf die gleiche Weise beschäftigt, nie dazu lernt und nie etwas anders angeht, stagniert die Handlung. Deshalb muss der Charakter am Ende nicht besser mit der Situation fertig werden (vielleicht wird auch alles immer schlimmer!), aber es muss Bewegung drin sein.

    Generell ist bei der Charaktererstellung, egal für welches Medium, wesentlich, dass du eine Grundvorstellung von der Rolle des Charakters in der Story bekommst und diese dann weiter verfeinerst. Starte am besten mit einer groben Outline, was der Charakter in der Story bewirkt und welche Rollen er einnehmen wird, zum Beispiel:
    - Vater der Hauptperson
    - Mentor eines Freundes der Hauptperson
    - taucht an Stelle X auf
    - tritt Handlungen X und Y los
    - ist ab Abschnitt Z nicht mehr relevant für die Story, wird zum Nebencharakter/verschwindet nach A/stirbt/verpufft/wird nackig in eine Grube gestopft und dort von einer Riesenspinne gefressen

    Hat man einen Überblick, was der Charakter in der Story überhaupt zu suchen hat, kann man weiter ausarbeiten, welche Charakterzüge diese Rollen unterstützen und welche ihnen entgegen stehen, beide Seiten bieten Potential für Konflikt, ansonsten siehe auch Punkt 2, was macht der Charakter sonst, wenn er nicht gerade die vorgegebene Handlungsrolle spielt.

  5. #5
    Ich kann nur sagen, dass ich bisher noch in keinem Medium - ob Buch, Film oder Spiel - jemals einen Charakter gesehen hab, den ich realitätsnah nennen würde. Damit meine ich, dass keine Figur so komplex und kompliziert wie ein echter Mensch ist. Das ist auch in Ordnung so, denn die Figuren sollen ja unterhalten und das würden sie, wenn sie so richtig echte Menschen wären, wohl eher weniger, als etwas vereinfachte und übertriebene Figuren.

    Das Genre spielt schon eine Rolle, Komödien, Action, High Fantasy, da kann man auch stark überzeichnen. Das wird ja oft und erfolgreich getan, die Werke kommen gut an. Aber selbst in Dramen sind die Charaktere mMn keine echten Menschen, sondern immer irgendwie etwas künstlich. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Figuren, die einen sind flacher, die anderen haben mehr Facetten, aber das ist für mich etwas anderes als Realitätsnähe und darauf wollte hinaus, als ich Challanger antwortete: Figuren sind nie so richtig echte Menschen.

    Zitat Zitat
    Gerade tragische Charaktere müssen aber mehr sein als eine Trope, eben weil das Publikum nicht auf billiges Dosendrama hereinfällt.
    Da kann ich dir aber eine Menge Gegenbeispiele nennen. Das billige Dosendrama kommt ziemlich oft gut an. Es ist ja sogar so, dass das billige Dosendrama schnell nicht mehr als solches wahrgenommen wird, sobald die richtigen Bedingungen erfüllt sind. Das gilt natürlich für beide Richtungen.

    Zitat Zitat
    Tropes können helfen eine Grundausrichtung für einen Charakter zu finden und nicht in häufige Fallen im Storytelling zu tappen (Mary Sue, strahlender Waisenheld der mit 14 Schwertmeister wird, the usual).
    Deine Beispiele sind für mich nicht per se Fallen. Kinderbücher haben z. B. öfter Mary Sues und das halte ich für keinen Fehler. Bei Kindern (und auch bei Erwachsenen, die Kinderbücher mögen) kommen solche Figuren gut an. Obwohl es sicher eine Menge Geschichten gibt, in denen eine Mary Sue unpassend sein würde, trifft das längst nicht auf alle zu. Genauso wie auf den 14-jährigen Schwertmeister, den werden die 14-Jährigen im Publikum ziemlich oft mögen. Und die Älteren, die Geschichten für Teenager mögen, wohl auch.

    Es ist doch so: Ein guter Charakter ist ein Charakter, den man als gut empfindet, und die Gründe dafür unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Es spricht ja nichts dagegen, stark idealisierte Helden gut zu finden.

    Was ich Challanger eigentlich sagen sollte, weil ich meine, zwischen den Zeilen etwas erkannt zu haben, was wiederum ich als Fallgrube ansehe, ist Folgendes: Gute/facettenreiche Charaktere sollte man nicht mit realitätsnahen gleichsetzen. Denn wenn man versucht, einen Charakter wie einen echten Menschen darzustellen, besteht die Gefahr, dass die Figur grau und nichtssagend wird.

    Geändert von Kelven (28.06.2016 um 09:21 Uhr)

  6. #6
    "Tropes" sind keine Sinnvollen mittel zur charakterisierung. Sie sind keine Stilmittel die man mal schnell nachschlägt und das liegt an ihrer entstehung denn "tropes" sind reaktionär irgendjemand schreibt einen "Trope" nachdem etwas existiert nicht anders herum ergo ist es praktisch unmöglich "tropes" auszuweichen, alles ist eins oder wird eins sein.

    Ich finde den Anspruch sich an "tropes" zu orientieren oder gar zu empfehlen es als hilfestellung zu rate zu ziehen als sehr bedenklich.

  7. #7
    Das stimmt, Tropen sind nichts anderes als eine Sammlung ähnlicher Eigenschaften, die sich jemand im Nachhinein ausgedacht hat. Ich sehe auch keinen Nutzen darin, sich an ihnen zu orientieren. Man braucht und kann sie nicht vermeiden, weil alles zur Trope wird, wie Lord of Riva schon sagte, und ein Charakter, der auf Grundlage einiger Tropen aufgebaut wurde, wird sich wohl kaum von einem Charakter unterscheiden, bei dem keine Tropen bewusst referenziert werden, weil er trotzdem unvermeidlich in bekannte Muster passen wird.

    Wenn man nicht genau weiß, wie man den Charakter, der einem vorschwebt, darstellen soll, ist es wie gesagt keine schlechte Idee zu schauen, wie andere eine ähnliche Figur darstellen. Man muss die Figur ja nicht gleich kopieren. Wichtig ist nur, dass man sich klarmacht, wen man wie mit der Figur erreichen will.

    Beim aktuellen Thema - eine tragische Figur - würde ich z. B. fragen, ob es in erster Linie darum gehen soll, den Spieler (ich geh immer noch von einem Spiel aus) zu Tränen zu rühren. Indem man so richtig auf die Tränendrüse drückt. Ich halte nichts vom Seifenoperdrama, aber neutral betrachtet kann man nicht von der Hand weisen, dass es viel beliebter ist als subtilere Varianten, weil es zugänglicher ist.

    @Challanger
    Hast du denn ein konkretes Vorbild für die Figur oder deine Geschichte?

  8. #8
    Zitat Zitat von Kelven
    Ich kann nur sagen, dass ich bisher noch in keinem Medium - ob Buch, Film oder Spiel - jemals einen Charakter gesehen hab, den ich realitätsnah nennen würde. Damit meine ich, dass keine Figur so komplex und kompliziert wie ein echter Mensch ist.
    Ich meine, das hängt ab von der Perspektive. Viele gute Figuren kommen mir lebensecht vor, eben weil sich ihr Autor auf für die Handlung relevante Eigenschaften verständigt hat. Das bedeutet nicht, dass nicht mehr hinter ihnen steckt. Menschen, die wir treffen, erfassen wir genauso wenig in all ihrer Komplexität. Deshalb zeigen wir uns oft überrascht, wenn wir jemanden "genauer" kennenlernen und "genauer" bedeutet meistens, wir lernen denjenigen in einer ungewohnten Situation kennen. Den Arbeitskollegen auf der Gartenparty, das eigene Kind im Sportverein, den Pfarrer in der Kneipe.
    Figuren werden ebenso komplex, indem sie verschiedenste Situationen erleben (tun nicht viele). In handlungsarmer, hoher Literatur, wo es um Reflexion, braucht es hingegen nur den Reflexionsgegenstand, der dann oft intensiver betrachtet wird, als ein Mensch das jemals täte. Da zeigt sich die Komplexität nicht in der Breite, sondern anhand eines Sachverhalts. Aber beides würde ich komplex nennen.

    Wie kann man das für ein Spiel nutzen? Nun, gerade RPGs werfen Spielfiguren in viele Situationen. Die unterscheiden sich selten fundamental - neue Stadt, neues Dungeon, neuer Feind/Freund -, aber bieten immer Aufhänger, eine Figur greifbarer zu machen. Durch Wort und Tat. Eine bestimmte Idee muss man ja im Kopf haben. Angenommen, man erzählt die typische Geschichte vom auserwählten Helden, der das uralte Böse besiegen soll. Angenommen, der Held ist ein tierischer Angsthase (höhö) - das ist die Idee. Ein ängstlicher Held, der durch ein dummes Schicksal die Welt retten soll. Was will ich damit erzählen? Einsatz Prämisse. Die könnte so aussehen:
    "Ein ängstlicher Junge stellt fest, dass man über seinen Schatten springen muss, um das Richtige zu tun. Selbst wenn es das eigene Glück gefährdet."
    Das ist abstrakt, aber ein Anhaltspunkt. Damit lässt sich fortfahren. Was ich ganz gerne mache: Ich interviewe meine Figuren. Macht Spaß und ist aufschlussreich. Die Fragen müssen rein gar nichts mit der Handlung zu tun haben, sie müssen nur den Charakter der Figur herauskristallisieren.
    Beispiel:
    Q: "Hi Fürchti, wie geht es dir?"
    A: "Etwas nervös."
    Q: "Warum? Hier passiert dir doch nichts."
    A: "Das weiß man nie und außerdem: ich wurde noch nie interviewt."
    Q: "Mach dir keine Sorgen, das wird Spaß machen."
    A: "Na gut."
    Q: "Banale Frage zum Einstieg: Was ist deine Lieblingsfarbe?"
    A: "Hm, ich mag blau. Beruhigt mich so. Erinnert mich irgendwie ans Meer und an die Schlafen, die mir meine Mutter immer vorgesungen hat."
    ...
    Ich denke, das Prinzip sollte klar sein.
    Einfach so frei wie möglich arbeiten und sich nicht selbst in ein Korsett zwängen. Dann klappts.

  9. #9
    Genau, der Autor beschränkt sich auf die für die Handlung relevanten Eigenschaften oder anders ausgedrückt: Der Autor lässt die Figuren nur das sagen und tun, was das Publikum (im Idealfall) unterhält. Natürlich kann eigentlich noch viel mehr hinter den Charakteren stecken, es wird nur nicht gezeigt, da hast du recht. Auch damit, dass wir von echten Menschen, selbst wenn wir viel mit ihnen zu tun haben, nur sehr wenig wissen. Aber wir kennen uns selbst und wissen, wie viel Gedanken wir an das Banale verschwenden und wie widersprüchlich selbst die Eigenarten sind, die uns eigentlich ausmachen. Egal um welche Situation es sich handelt, Liebe, ein einschneidendes Ereignis, etwas Furchteinflößendes oder der Kampf gegen den Bösewicht, der gerade die Welt vernichten will - wir würden wohl anders denken und paradoxer handeln als die Figuren aus der Fiktion. Chaotischer, weniger geradlinig, ich kann das nicht so gut in Worte fassen, was ich eigentlich meine. Ich finds aber auch nicht schlimm, dass Figuren (mMn) nur selten lebensecht sind. Sie müssen so sein, weil sie dadurch zugänglicher sind.

    Ein Beispiel, das mir gerade einfällt, ist Javert aus Les Miserables (natürlich keine besonders zeitgenössische Unterhaltungsliteratur), der in seiner Rechtschaffenheit so kristallklar ist, wie es wohl kein echter Fanatiker je sein würde. Auch wenn jemand fanatisch an etwas glaubt, wird er gegen seine eigenen Ideale verstoßen, heuchlerisch sein, paradox handeln, wie es Menschen eben tun, und für sein Abweichen Ausreden finden. Javert aber kann sich das nicht verzeihen.

    Aber das nur am Rande. Meine Motivation, dieses Thema überhaupt aufzugreifen, ist ja dieselbe wie immer, keine Kritik an der fehlenden Lebensechtheit der Figuren (das ist so in Ordnung, wie es ist), sondern an dem Gedanken, die Realität nachzuahmen. Dieser Gedanke hat - das kann natürlich nur mein Eindruck sein - der Makercommunity eher geschadet. Schon früher wurde den Entwicklern gesagt, sie sollen sich an der Realität orientieren. "Die Charaktere müssen tiefgründig sein" - viele Geschichten unterhalten sehr gut, gerade weil die Figuren einfach gehalten sind. "Was hättest du anstelle der Figur getan?" - dabei sind die Charaktere doch in der Regel keine self inserts. "Figurn müssen logisch handeln" - obwohl die wenigsten Vulkanier sind. Menschen werden von Emotionen geleitet. Figuren können ohne weiteres unglaubwürdig sein: Der rechtschaffene Held, der seinem Gegenspieler selbst dann noch hilft, wenn der gerade mit dem Schwert in seinem Rücken steckt, ist so eine. Solche Figuren sind beliebt (ich selbst mag sie übrigens nicht), neutral betrachtet spricht nichts gegen sie. Solche Charaktere dürfen dann aber innerhalb der Geschichte auf Basis dieser unglaubwürdigen Persönlichkeit nicht unglaubwürdig handeln, sprich sie dürfen nur mit guter Begründung etwas tun, was ihrer absurden Einstellung widerspricht. Das ist für mich die wahre Glaubwürdigkeit: Charakterkonsistenz.

    Wobei dein letzter Satz eigentlich alles, was ich sagte, gut zusammenfasst. So seh ich das nämlich auch. Bloß nicht in ein Kleidungsstück zwängen lassen, das einem gar nicht passt.

    Geändert von Kelven (30.06.2016 um 17:02 Uhr)

  10. #10
    Bisher habe ich meine Figuren einfach genommen, wie sie kamen. Ich habe hier und da Eigenschaften aus dem realen Leben genommen (sowohl von Personen, die ich kenne als auch von fiktiven Personen aus anderen Medien), aber selten so, das eine Figur komplett eine andere als Vorbild hatte. Natürlich passiert es, dass etwa bei einer melancholische Figur von einer Vorbildfigur, die ähnlich aufgebaut ist, mehrere Eigenschaften abbekommt, aber sollte man alles übernehmen, dann passt es einem oft nicht mehr.
    Ich will damit nicht sagen, dass es schlecht ist sich reale (oder eben fiktive) Personen anzuschauen und sie nachzuzeichnen - das kann durchaus wunderbar passen - aber in der Regel eben nicht.

    Meistens fang ich einfach an eine Story zu entwickeln, und dann überlege ich, "was für eine Person sehe ich da in der und der Rolle?".
    Es geht vielleicht um einen Dieb und seine Raubzüge, also will ich den eher ruhig und zurückhaltend haben. Damit hab ich den Charakter.
    Dann schreib ich an der Story und es kommt eine Situation, dann erst überlege ich mir, dass der Dieb rotharrige Frauen hasst, weil seine erste Liebe ihn verlassen und dabei gleich noch bestohlen hat.
    Dabei wird die Figur dann komplexer und nach und nach kommen neue Sachen hinzu.
    Oder ich denke, dass es cool wäre, wenn er super mit Kindern umgehen könnte, und schwups: Er hat die Eigenschaft. Sie wird vielleicht sogar nie vorkommen, vielleicht auch nichtmal erwähnt werden, aber in meinem Kopf hat er eben die Eigenschaft.
    natürlich mache ich mir auch so Gedanken, wie sie sein sollte und auch dadurch festigt sich ein bestimmtes Bild des Charakters.
    Und nach und nach formt sich immer mehr ein komplexes Bild der Figur und ich lasse sie eben so handeln, wie ich es mir in meinem Kopf als glaubwürdig vorstelle. Teilweise bastel ich dann auch länger an Schlüssel-Szenen herum, damit die Figur nicht unrealistisch handelt und werfe sie auch mal komplett über den Haufen, weil ich mir die Figur so einfach nicht vorstellen kann.
    Je länger eine Figur Handlungsrelevant ist, desto komplexer wird sie natürlich, aber ich denke, dass das auch logisch ist (wurde ja schon erwähnt, dass nicht jeder NPC seine eigene epische Hintergrundgeschichte braucht, sondern auch einfach ein Typ sein, der in der Gegend rumsteht und einen blöden und belanglosen Spruch von sich gibt).

    Also soviel von mir dazu. Ich lass es einfach auf mich zukommen, und versuche eben nicht, mich von vornherein komplett auf etwas bestimmtes festzulegen.
    Aber ich denke auch, dass man Figuren unlogisch und unrealistisch handeln lassen kann. Aber! - je nach Genre und Ausrichtung des Spiels - sollte man zumindest halbwegs eine Begründung dafür haben (die dann aber ruhig auch wieder "unlogisch" sein kann, aber dennoch eine Erklärung liefern sollte). Zu oft sollte man das nicht machen, weil der Spieler sich irgendwann veräppelt fühlt (wobei das bei manchen Genres ja auch durchaus bewusst genutzt werden kann ).

    Sorry für den etwas konfusen Text, war den ganzen Tag mit ner Kindergruppe im Freizeitpark und bin echt erledigt ^^

  11. #11
    @Kelven: Oh, ich verstehe, was du meinst. Paradox trifft es sehr gut. Echte Menschen haben vielleicht eine Philosophie, ein Credo, ein Selbstbild, aber sie handeln nicht immer danach und wissen selbst nicht, warum (der Grund ist eigentlich klar: sie sind keine Maschinen). Fiktion verdichtet, sie verdichtet alles. Auch Spiele sind Dichtung. Figuren können in ihrem Verhalten schon paradox sein, aber dann ist es so eklatant bzw. auffällig, dass es ihren Kern darstellt. Dichte Paradoxie. Genauso müssen Dialoge dicht sein oder ihre Durchlässigkeit soll wiederum was aussagen.

    Im Wesentlichen stimme ich dir zu. Plant man Figuren für ein RPG, lohnt es sich, die gesammte Dynamik im Blick zu haben. Dynamik entsteht durch auffällige Gemeinsamkeiten und Unterschiede und je stereotyper Figuren sind, desto einfacher ist es, sie dynamisch miteinander umgehen zu lassen. Dass ist ja einer der Gründe, warum real Trolls Erzählungen so super funktionieren.

    Wo ich dir nicht zustimme: Lebensechtheit darf man schon einfordern. Ich glaube, die Makercommunity hat diese Forderung nur nie verstanden. Sie resultiert, ähnlich wie die 3-Tile-Rule, aus einer beobachteten Schwäche, ohne ihre Lösung zu sein. Figuren in Makerspielen verhalten sich oft unnatürlich, klingen gestelzt oder verhalten sich in Konfliktsituationen nicht nachvollziehbar. Das hat die Forderung nach Lebensnähe provoziert, glaube ich. Diese Lebensnähe hat niemand genauer erklärt. Nochmal real Troll: Lebensnah sind seine Figuren ja nicht, aber natürlich und nachvollziehbar und in ihrer Brachialität erinnern sie uns manchmal an uns selbst.
    Wer lebensechte Figuren will, soll jedenfalls nicht die Schatzinsel lesen. Ich würde Lebensechtheit nicht einfordern, aber Horrorspiele z.B. versuchen ja oft, normale Menschen in einer Ausnahmesituation darzustellen. Da sollten sie lebensecht wirken.

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