Er wusste nicht, was es war. Die Ermüdung? Oder sein schlechter psychischer Zustand? Lag es an dem auf und ab seiner Gefühle? Hätte er sich doch aufwärmen sollen, bevor er sich an den Aufstieg machte?
Vielleicht war er aber auch einfach nur zu überheblich gewesen zu denken, die Wand mit nur einem Bein erklimmen zu können. Mit schlechter Ausrüstung. Und sich einem Seil anvertrauend, dass er nicht selber befestigt und auf Sicherheit überprüft hatte.
Vielleicht war es aber auch einfach Schicksal? Pech? Vorherbestimmung? Zufall? Ein Aliengott?
Vielleicht war es etwas davon. Oder auch alles zusammen. Es machte keinen Unterschied. Er sah die Gesichter von oben immer kleiner werden. Bald würde es passieren...
Mit geübter Bewegung Griff Sam nach oben an eine kleine Felsenkante, die einem weniger geübten Kletterer nicht einmal aufgefallen wäre, ihm aber einen guten Halt bot um sich zum nächsten sicheren Haltegriff hochzustoßen. Nur Mühsam konnte er seine Vision - ein treuer Begleiter jeder seiner Klettertouren - abschütteln.
Obwohl er bisher nie abgestürzt war und alles eher zu oft als zu selten überprüfte, hatte er zu Beginn jedes Aufstiegs eine Vision vom Fallen. Jedesmal machte er sich dabei Vorwürfe, was er alles falsch gemacht hatte, sah den Himmel über sich und die Felsen links und rechts an sich vorbeischießen. Seltsam war, dass er beim Fallen nie nach unten schaute und er immer wieder zu sich kam, bevor er den Boden erreicht hätte. Und auch wenn die Vision Minuten zu dauern schien, verging in der realen Welt kein Augenblick und hinterließ seine Sinne geschärfter als zuvor und ließ das Adrenalin durch seine Adern pulsieren.
Nicht zum ersten mal dachte er, dass gerade diese Eingebungen ihn bisher vor einem Unfall bewahrt hatten. Aber das konnte sich heute ändern. Denn praktisch alle seiner Vorwürfe erwiesen sich diesmal als wahr. Das Seil sah zwar stabil aus, aber wusste er, wie es oben befestigt war? Würde es halten? Oder sein Gurt. Er wusste durchaus, was er tat, als er ihn zusammenknotete, aber das Seil sah schon recht alt und verwittert aus.
Und über seinen Körperlichen und besonders seinen Psychischen Zustand hatte er sich die letzten Tage und Wochen mehr als genug Gedanken gemacht.
Ein Fehler reichte. Nur ein einziger und es wäre vorbei. Zumindest würde es schnell gehen.
Und Sam hoffte, dass er dabei den Himmel sehen könnte.
Ein Ruf von unten. Rich. Sam hörte nicht wirklich zu, rief einfach ein "WAS?" nach unten und ging davon aus, dass Rich das schon reichen würde. Der Ruf von oben als Antwort auf Rich ließ ihn erstmals realisieren, wie weit oben er schon war. Scheint heute wohl nicht der eine Tag zu sein.
Aber bis er nicht oben war, blieb alles offen. Das wusste Sam, also lenkte er seine Konzentration wieder auf die Erhebungen, Vorsprünge und Haltegriffe vor ihm. Seine Welt, wie er sie am liebsten hatte. Hier konnte er abschalten und fühlte sich frei.
Ein weiterer Griff. Ein Schwung nach oben und dann stand Sam aufrecht und blickte 2 Frauen entgegen, die das Seil festhielten, an dem er kurz zuvor noch gehangen hatte. Überrascht dachte er Die haben das erstaunlich bewegungslos gehalten... Dann erblickte er den Baum hinter den beiden und wie das Seil mehrfach darum gewickelt war. Nun ja, guter Wille und so.
Das war viel zu schnell gegangen. Er überlegte ernsthaft wieder hinab zu steigen um den Leuten unten zu helfen und nochmal klettern zu können.
Stattdessen ging er zu dem Baum hinüber und überprüfte im Hinblick auf das Vertrauen, dass die beiden anscheinend in ihre Knotentechnik hatten, das Seil. Nach einer kurzen Inspektion blickt er die beiden erstaunt an.
"Der Knoten ist doch perfekt. Sogar mit doppelter Sicherung. Warum haltet ihr das Seil fest?"
Während er auf eine Antwort wartete zog er sich den Gurt aus, öffnete die Schlaufe, in der das Seil entlang lief und bereitete es vor, damit es unten direkt wieder benutzt werden konnte.
"HIER KOMMT DER GURT! DENKT DARAN, WAS ICH EUCH GESAGT HABE!"
Damit warf er ihn hinunter und griff symbolisch auch an das Seil und grinste.
"Na, dann wollen wir mal!"
Zumindest hatte ihn die ganze Sache aufgeheitert, was momentan wohl das Beste war, was ihm passieren konnte.