Kaum hatte der Deutsche zu Ende gesprochen, schloss Bree lächelnd auf und stellte sich in ihrer sonnenscheinigen Art neben ihn, als wollte sie seinen Worten nur mit einem Lächeln mehr Wucht verleihen. Sie hatte wirklich ein Talent dafür, mit jedem klar zu kommen, egal um was für einen Idioten es sich auch handelte. Neben Rich war nun auch Sam ein Beispiel dafür.
Brix vertraute ihm nicht. Sie konnte sich sogar vorstellen, dass er nur behauptete, professionell geklettert zu sein, um auf andere interessanter zu wirken. Vielleicht wollte er sich auf diese Weise rehabilitieren. Trotzdem würde sie sein Angebot nicht ausschlagen. Er könnte ruhig als erster klettern. Oder als letzter. Wenn er mit dem Knoten Mist anstellen würde, hätte ihre neue Freundin Sarah sicherlich genug Ahnung, um seine Fehler spätestens nach dem ersten Kletterer zu korrigieren. Jedenfalls sah sie in so ziemlich jeder Hinsicht fähiger aus. Vielleicht war es eine Anmaßung, ihr so blind zu vertrauen, doch die Alternative wäre gewesen, weiter hier im Tal zu versauern oder beim Aufstieg sicher ein halbes Dutzend ihrer Mitstreiter abstürzen zu sehen.
"Okay, also Rich, ich und wer?", resümierte sie fragend und teilte damit auch ihre Entscheidung mit, ebenfalls als eine der drei Ersten die Klippen hinauf zu klettern und damit den zweiten Anlauf zu wagen, nachdem der erste wenig erfolgreich geendet ist. Dieses Mal würde sie sich einfach zwingen, nicht an Vergangenes zu denken und mit ihrer ganzen Konzentration bei der Aufgabe zu bleiben. Die Hilfsmittel, auf die sie bei Versuch eins verzichtete, würden ihr Übriges leisten. "Mir egal, wer anfängt. Aber beeilt euch bitte. Ich hab keinen Bock mehr auf Kiwanos. Ich hoffe, ihr habt im Dorf geilere Sachen." Bei den letzten Worten sah sie nach oben zu Sarah, schüttelte dann jedoch mit dem Kopf. "Nicht antworten! Ich will das einfach glauben, bis ich oben bin."
"WAS?! KOMMT IHR NUN HOCH ODER WAS IST LOS?"
"SCHMEIß MAL RICHS EI WIEDER RUNTER! ER BRAUCHT WOHL DOCH ZWEI!"
Ein Grinsen von oben und ein Grinsen von Rich.
"Kannst ruhig zugeben, wenn du neidisch bist. Ich leih's dir auch mal aus."
Da landete ein Bündel an Kleidungsstücken das mit einem Seil zusammengebunden war zwischen ihnen.
"IST IHM DAS GROß GENUG?"
Sam humpelte zum Seil und mit ein paar gezielten Bewegungen hatte er aus dem Seil ein durchaus Stabil wirkendes Geflecht geknotet, in das er hineinstieg und es wie eine Hose anzog.
"Geiler String, steht dir echt gut."
"Wer ist den jetzt neidisch?"
Davon ließ Sam sich nicht irritieren, konzentriert und mit flinken Fingern machte er einen aufwendig aussehenden Knoten in die Vorderseite, dann drehte er sich zu den anderen um und hielt den eben vollendeten Knoten in die Höhe.
"Hier vorne, diese Stelle müsst ihr lösen, dann könnt ihr die Breite anpassen. Danach nur noch diese Schlaufe hier durch und es festziehen, dann sitzt es bombenfest.
Die Herren besonders, aber auch die Damen sollten darauf achten, dass diese Stränge hier druckfest verlaufen, also vor dem Klettern durchaus einmal Kräftig am Seil nach oben ziehen und prüfen, dass nichts schmerzt."
Damit zeigte er auf die beiden parallel zwischen seinen Beinen verlaufenden Stränge und zog einmal Kräftig an einer Schlaufe vor seinem Körper nach oben. Man merkte, dass er hier in seinem Element war und er es schon häufiger erklären musste. Und trotz der improvisierten Ausrüstung wirkte alles professionell und so, als ob man sich darin sicher fühlen könnte.
"Durch diese Schlaufe hier kommt dann das Kletterseil und rutscht darin entlang. Der Knoten hier wird euch aufhalten, wenn ihr runterfallt. Bei normalem Klettern gleitet das Seil da einfach hindurch, solltet ihr aber Fallen wird sich der Knoten durch den Ruck und die größere Reibung zusammenziehen und euch oben halten. Daher als Tipp: Fallt nicht direkt nach einem Meter runter, dann hat der Knoten noch nicht genug Zeit um sich festzuziehen. Beim Fallen packt niemals an den Knoten hier, sonst besteht die Gefahr, dass ihr eure Finger darin einquetscht oder ihr euch Reibungsverbrennungen zuzieht. Am besten Zieht sich jeder Handschuhe oder ein Stoffstück über die Hände. Und haltet euren Schwerpunkt möglichst nah an der Wand, so lässt es sich einfacher klettern."
Während der Erklärung führte er jede Handlung einmal vor und griff sich aus dem Kleidungsbündel, in dem das Seil eingewickelt war, ein Stoffteil um sich die Hände damit zu umwickeln.
Besonders wie der Knoten des Gurtes festgemacht und wo das Seil durch die Schlaufe gezogen werden musste, erklärte er mehrmals, um sicher zu gehen, dass die Nachfolgenden keine Probleme damit hatten. Nach ein paar weiteren Tipps humpelte er dann zur Wand, knotete seine Krücke an einen schnell angebrachten Schmetterlingsknoten und wollte gerade anfangen die Klippe emporzusteigen.
"Wird das mit deinem Bein überhaupt funktionieren? Ich meine, du brauchst ja schon zum laufen eine Krücke..."
So, als ob er es gerade erst gemerkt hatte schaute er sein verletztes Bein an.
"Ach das. Das ist kein Problem. Das Bein brauch ich nicht."
Bei seinen Touren hatte er immer wieder Schulungen gemacht, in denen auch einbeiniges oder sogar nahezu einarmiges Klettern Teil des Programms war. Immerhin konnte man auch am Berghang einen Krampf bekommen oder sich irgendwie verletzen. Und an einer Steilwand klebend war es schon etwas schwierig einfach mal ne Pause zu machen und sein Bein zu versorgen. Außerdem hatten sie sich öfter mal einen Spaß daraus gemacht und Ein-Bein-Wettrennen veranstaltet. Nicht ganz reif und auch nicht ganz ungefährlich, aber Spaß hatten er und seine Gefährten dabei allemal. Und hey, man ist nur einmal jung.
Nach einem eingehenden Blick die ganze Felswand hinauf zog Sam sich also an einem Vorsprung hoch und stieg geschickt und erstaunlich schnell und ohne sein linkes Bein auch nur in die Nähe der Steinwand zu bringen, einige Meter hoch, bis er sich plötzlich und mit Schwung von der Wand abstieß und der Menge entgegen fiel. Aufschreie und Keuchen waren zu hören, doch der Knoten hielt und Sam hing freihändig über ihnen.
"Ich denke, das sollte als Beweis reichen, dass der Knoten sicher ist?"
Dabei blickte er ernst und dann sogar leicht verschmitzt zu der überraschten Gruppe hinab, bis er sich wieder an der Wand festhielt.
"Der Knoten hält euch so lange fest, bis ihr den Druck von ihm nehmt. Also könnt ihr einfach wieder zur Felswand rüberschwingen und weiterklettern, der Knoten lockert sich dann und gleitet wie zuvor durch die Schlaufe."
rief er noch hinab und ging dann den Aufstieg in ähnlichem Tempo wie zuvor an.
Während Sarah neben ihr ungeduldig von Links nach Rechts trippelte und das Geschehen zu ihren Füßen mit einem abschätzenden Blick begutachtete, schossen Zoe tausende Fragen durch den Kopf. Wer war diese Frau? Gibts da noch mehr? Und warum die Eile? Was für Gefahr? Warum bin ich eigentlich halbnackt? Was ist das für eine Insel? Stehe ich wirklich auf Casey oder ist das nur diese wahnwitzige Situation? Unten begab sich Sam anscheinend als erster in Kletterposition und Zoe warf noch einmal einen Blick auf Sarah. Würde sie sofort merken, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt?
Außerdem redete Sam anscheinend. Viel. Sarah mumelte leichte Flüche und warf immer mal wieder einen Blick zum Horizont, um den Stand der Sonne zu checken.
Zeit, die Dinge zu beschleunigen.
"EY RICH!"
"WAS?!"
"WENN DU DIESMAL HOCHKOMMST, BEKOMMST DU EINE BELOHNUNG VON MIR!"
"MUSS ICH MICH DANN NICHT MIT SPACEY PRÜGELN?!"
Dieser Typ...
"EY, KAKTUS?"
"WAS?"
"KOMM MA ZU POTTE! ICH MUSS DA HOCH!"
"JETZT HÖRT AUF ZU SHAKERN, WIR MÜSSEN UNS BEEILEN!"
Das fing ja schon einmal grandios an. Die Möchtegern-Diktatorin im angesagten Ethno-Kannibalen-Look stemmte sich gegen das Seil und auch Zoe stand auf und begab sich in Position. Sie hatte seit gestern schon Bleche von Flugzeugen gerissen, Türen fast aufgebrochen, Pistolen gefunden und einen ganzen Haufen anderer Sachen gemacht, die einfach komplett wahnsinnig waren. Da war es ja wohl zu schaffen, drei Leute hier hoch zu ziehen.
Er wusste nicht, was es war. Die Ermüdung? Oder sein schlechter psychischer Zustand? Lag es an dem auf und ab seiner Gefühle? Hätte er sich doch aufwärmen sollen, bevor er sich an den Aufstieg machte?
Vielleicht war er aber auch einfach nur zu überheblich gewesen zu denken, die Wand mit nur einem Bein erklimmen zu können. Mit schlechter Ausrüstung. Und sich einem Seil anvertrauend, dass er nicht selber befestigt und auf Sicherheit überprüft hatte.
Vielleicht war es aber auch einfach Schicksal? Pech? Vorherbestimmung? Zufall? Ein Aliengott?
Vielleicht war es etwas davon. Oder auch alles zusammen. Es machte keinen Unterschied. Er sah die Gesichter von oben immer kleiner werden. Bald würde es passieren...
Mit geübter Bewegung Griff Sam nach oben an eine kleine Felsenkante, die einem weniger geübten Kletterer nicht einmal aufgefallen wäre, ihm aber einen guten Halt bot um sich zum nächsten sicheren Haltegriff hochzustoßen. Nur Mühsam konnte er seine Vision - ein treuer Begleiter jeder seiner Klettertouren - abschütteln.
Obwohl er bisher nie abgestürzt war und alles eher zu oft als zu selten überprüfte, hatte er zu Beginn jedes Aufstiegs eine Vision vom Fallen. Jedesmal machte er sich dabei Vorwürfe, was er alles falsch gemacht hatte, sah den Himmel über sich und die Felsen links und rechts an sich vorbeischießen. Seltsam war, dass er beim Fallen nie nach unten schaute und er immer wieder zu sich kam, bevor er den Boden erreicht hätte. Und auch wenn die Vision Minuten zu dauern schien, verging in der realen Welt kein Augenblick und hinterließ seine Sinne geschärfter als zuvor und ließ das Adrenalin durch seine Adern pulsieren.
Nicht zum ersten mal dachte er, dass gerade diese Eingebungen ihn bisher vor einem Unfall bewahrt hatten. Aber das konnte sich heute ändern. Denn praktisch alle seiner Vorwürfe erwiesen sich diesmal als wahr. Das Seil sah zwar stabil aus, aber wusste er, wie es oben befestigt war? Würde es halten? Oder sein Gurt. Er wusste durchaus, was er tat, als er ihn zusammenknotete, aber das Seil sah schon recht alt und verwittert aus.
Und über seinen Körperlichen und besonders seinen Psychischen Zustand hatte er sich die letzten Tage und Wochen mehr als genug Gedanken gemacht.
Ein Fehler reichte. Nur ein einziger und es wäre vorbei. Zumindest würde es schnell gehen.
Und Sam hoffte, dass er dabei den Himmel sehen könnte.
Ein Ruf von unten. Rich. Sam hörte nicht wirklich zu, rief einfach ein "WAS?" nach unten und ging davon aus, dass Rich das schon reichen würde. Der Ruf von oben als Antwort auf Rich ließ ihn erstmals realisieren, wie weit oben er schon war. Scheint heute wohl nicht der eine Tag zu sein.
Aber bis er nicht oben war, blieb alles offen. Das wusste Sam, also lenkte er seine Konzentration wieder auf die Erhebungen, Vorsprünge und Haltegriffe vor ihm. Seine Welt, wie er sie am liebsten hatte. Hier konnte er abschalten und fühlte sich frei.
Ein weiterer Griff. Ein Schwung nach oben und dann stand Sam aufrecht und blickte 2 Frauen entgegen, die das Seil festhielten, an dem er kurz zuvor noch gehangen hatte. Überrascht dachte er Die haben das erstaunlich bewegungslos gehalten... Dann erblickte er den Baum hinter den beiden und wie das Seil mehrfach darum gewickelt war. Nun ja, guter Wille und so.
Das war viel zu schnell gegangen. Er überlegte ernsthaft wieder hinab zu steigen um den Leuten unten zu helfen und nochmal klettern zu können.
Stattdessen ging er zu dem Baum hinüber und überprüfte im Hinblick auf das Vertrauen, dass die beiden anscheinend in ihre Knotentechnik hatten, das Seil. Nach einer kurzen Inspektion blickt er die beiden erstaunt an.
"Der Knoten ist doch perfekt. Sogar mit doppelter Sicherung. Warum haltet ihr das Seil fest?"
Während er auf eine Antwort wartete zog er sich den Gurt aus, öffnete die Schlaufe, in der das Seil entlang lief und bereitete es vor, damit es unten direkt wieder benutzt werden konnte.
"HIER KOMMT DER GURT! DENKT DARAN, WAS ICH EUCH GESAGT HABE!"
Damit warf er ihn hinunter und griff symbolisch auch an das Seil und grinste.
"Na, dann wollen wir mal!"
Zumindest hatte ihn die ganze Sache aufgeheitert, was momentan wohl das Beste war, was ihm passieren konnte.
Sam warf das Seil hinab. Rich fing es, da er schon bereit stand und es wohl gar nicht abwarten konnte, endlich seinerseits den Aufstieg zu wagen. Der begeisterte - und manche würden sagen begnadete - Footballspieler grinste und warf einen Blick zu Brix.
"Schön hingucken und lernen, Brittaney", wies er sie schmunzelnd an, mit einer natürlichen Arroganz ausgestattet. Sie kannte ihn aber gut genug, um zu wissen, dass er das auf seine eigene, komische Art auch sagte, weil er tatsächlich glaubte, dass sie sich dadurch etwas von seinen vermeintlichen Fähigkeiten aneignen könnte. Mal sehen, ob er Recht behalten würde. Oder überhaupt gut genug war, um als positives Beispiel gelten zu können.
Die 19-Jährige entschied sich dazu, nicht zu protestieren, um den Fokus nicht auf den 'falschen' Namen zu lenken. Mit etwas Glück würden die Anwesenden vielleicht sogar denken, dass es sich um Brees vollen Namen handelte?!
"BRITTANEY! DU SOLLST GUCKEN!"
Dieses Mal sah er definitiv sie an. Er hing dort, ganz entspannt, gute fünf Meter an der Klippe, hielt sich locker mit einer Hand fest und hatte sich mit dem Oberkörper von der Wand weggedreht, fuchtelte nun mit dem Kletterwerkzeug, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. "IST JA GUUUT!", erwiderte sie, halb zischend, halb fauchend und sah nun auf zu ihrem Bandkollegen. "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns", sagte sie mehr zu sich selbst.
"SOLL ICH SCHNELLER KLETTERN ALS KAKTUS?" Natürlich. Rich war wieder drauf und dran, einen Wettbewerb daraus zu machen. Sie wollte ihm gerade zurufen, dass er sich doch beeilen solle, da protestierte Bree schon lauthals. "KLETTER VORSICHTIG!" So einen Befehlston war man von ihr wirklich nicht gewöhnt. Aber es war selbstverständlich auch mehr Besorgnis als Einschüchterung, die aus ihrem Gesicht sprach.
In jedem Fall unterbrach es das Schauspiel des Sportlers, der sich nun wieder ganz der Wand widmete. Die kleine Herde an Leuten, die hier mit Brittney standen, sahen allesamt zum Kletterer auf, als wäre es ein Großevent. Hier sollte es weniger darum gehen, einen Athleten bei seinem Tun zu bewundern, sondern mehr darum, zu hoffen, dass er es irgendwie schafft und sicher oben ankommt. Mit jedem Meter nahm die Nervosität, doch auch das Vertrauen in ihn, zu.
Brix kannte diesen Kerl jetzt schon eine Weile. Und auch, wenn sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, wo es nur ging, war sie sich doch ziemlich sicher, zu wissen, dass er nicht regelmäßig klettern ging. Er war prinzipiell sportbegeistert, ja - aber das Klettern oder ein Sport, der ein ähnliches Skillset erforderte, war nicht unbedingt, was man mit ihm assoziierte. Gerade deswegen war es erstaunlich, wie - dachte sie in Zusammenhang mit Dick wirklich an dieses Wort? - grazil er sich die Wand hochzog. Kleine Pausen - und die waren nicht länger als zwei Sekunden - gab es nur dann, wenn er an eine wirklich fiese Stelle in der Steilwand kam, wie die 'gepiercte Klitoris', die er über das 'eingewachsene Haar' bestieg. Zumindest hätte er das selbst wohl so ausgedrückt. Auch der von ihm selbst als 'Erdbatzen' ausgewiesene Teil des Hindernisses rang ihm sichtbar nur einen winzigen Moment der Konzentration ab, bevor er sich davon kein zweites Mal bezwingen ließ.
Doch mit dem Bewältigen eben dieser Hürde stieß er so langsam in den gefährlicheren Bereich vor. Der Bereich, der weiter oben war und bei dem ein Sturz kaum so sanft werden würde, wie sie es fast alle bislang erlebt haben. Lediglich Fabian war schon etwas böser von der Wand gefallen, was wohl auch das Einzige war, das den ansonsten mutigen und pflichtbewussten Kerl davon abhielt, es an Stelle von ihnen noch mal zu versuchen. Das Kuriose war, dass Brittney nicht ein einziges Mal daran dachte, wie viel Respekt - oder sogar Angst - sie vor ihrem Aufstieg hatte, so hypnotisiert war sie vom Anblick eines wohl viel besseren Kletterers, der bis dato keinerlei Probleme hatte.
Doch es kam, wie es kommen musste. Sie selbst sah in einem Moment gar nicht zur Felswand, doch bemerkte das schreckhafte Zusammenzucken der nah bei ihr Stehenden. Als ihre Augen sich dann blitzschnell in Richtung der Felsen warfen, erblickte sie erst schemenhaft den fallenden Körper. Während nicht mal eine Sekunde verging, schlug ihr Herz bis in den Hals. Sie wollte rennen und sich noch irgendwie zwischen den Fallenden und seinen Tod werfen, doch jede Hilfe wäre zu spät gekommen. Zudem hing sie wie angewurzelt fest, schaffte es keinen Fuß vom Fleck und konnte nur dabei zusehen, wie Rich sich... wieder in der Wand festhakte?
"HEHE, ICH WOLLTE MAL WAS AUSPROBIEREN", grinste er den unten Verbleibenden über seine eigene, rechte Schulter hinweg zu. "KEINE ANGST! Ich stürze schon n-" - "ICH HASSE DICH!" Das dürfte ungefähr das erste Mal gewesen sein, dass Bree diese Art von Worten verwendet hatte. Doch Brittney konnte die Gedanken der Drummerin nachvollziehen. "WENN WIR NACHKOMMEN, MACHEN WIR DICH FERTIG, DU PIMMEL!", rief sie hinterher, konnte jedoch nicht anders als dabei zu grinsen. Vor dem Ärger über das dumme Experiment des Klettergenies stand wohl die Freude, dass ihm doch nichts passiert war.
Die letzten Meter brachte er dann mindestens mit der selben Leichtigkeit hinter sich - vielleicht auch angespornt dadurch, schnell möglichst viele Meter zwischen sich und die vor Angstwut schäumende Bree zu bringen, der man dennoch eine Menge Erleichterung anmerkte, als er über die Klippe zu Sam, Zoe und Sarah stieg. Es vergingen einige Momente. Anscheinend akklimatisierte sich der Klettermeister oben mit den anderen und warf das Seil erst dann wieder zurück, die Klippe nach unten sehend und erwartungsvoll in ihre Richtung blickend.
Kaum das Rich oben angekommen war und sich die Sekunde Zeit gegönnt hatte, Zoe ein grinsendes Nicken und Sarah ein neugieriges Zwinkern zuzuwerfen, legte er sich flach auch den Boden, so dass er den kletternden Aufstieg von Brix würde beobachten können.
Er selbst hatte damit gerechnet, dass die Kletterpartie kein Ding der Unmöglichkeit sein würde, nicht bei seiner Sportlichkeit und vor allem nicht unter den Augen der geneigten Zuschauerschaft. Aber bei Brix machte er sich etwas größere Sorgen. Doch sie konnte stur und entschlossen sein und hatte immer einen klaren, fest definierten Willen vor Augen. Den würde sie auch brauchen.
Er selbst hatte beim Klettern gemerkt, wie es durch die lose bröckelnde Erde immer schwerer geworden war, die Klippe zu erklimmen und er war froh, dass der Rest der Überlebenden den Komfort eines Seiles genießen konnten, das sie oben halten würden.
Brix, die 25 Meter unter dem Sportler war und nach oben blickte, warf diesem einen undeutbaren Blick zu, er revanchierte sich mit einem zuversichtlichen Grinsen und einem Daumen nach oben. Er konnte fast spüren, wie sie schmunzelnd die Augen verdrehte, als würde sie sagen wollen, dass sie weder seine Erlaubnis, noch seine Unterstützung brauchen würde und dann machte sie sich daran, ebenfalls die massive Klippe zu überwinden.
Während Richard als geborener Sportfanatiker jeden einzelnen Schritt seines Aufstiegs noch einmal in Gedanken durchging und neu erlebte und natürlich mit dem Vorgehen seiner Kindheitsfreundin verglich, merkte er die enorme Anspannung, als er das schwarzhaarige Mädchen an der Wand klettern und kleben sah. Jedes Mal wenn sie ein bisschen Wurzelwerk abriss, setzte sein Herz aus, wann immer sich kleine Staublawinen in erdigen Krümeln nach unten senkten, wünschte er, er könnte einfach runterklettern und ihr helfen. Doch dazu war die Wand zu gefährlich und auch ihr Kletterstil zu verschieden. Er würde sie eher in Gefahr bringen als ihr helfen, soviel war ihm klar.
Sie hatte gut die Hälfte geschafft, als Rich das erste Mal ein Zittern in ihren Armen und Muskeln wahrnehmen konnte. Sie war nicht die kräftigste Person, schien normalerweise aber viel mit ihrer Gewandtheit und Agilität ausgleichen können.
Doch an eine Wand geschmiegt, verloren auf einer götterverlassenen Insel schien ihr das relativ wenig zu helfen.
Mit zusammengebissenen Zähnen blickte sie nach oben. Direkt in Rich‘ Gesicht und er sah sofort, dass sie Probleme hatte.
Es wirkte, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere geklettert.
Etwas schien nicht zu stimmen, die Anspannung und der Schock drückten schwer auf seine Schultern, sein Mund wurde trocken.
Die Finger der Schülerin krallten sich nun in den Felsen, die Arme und Beine zitterten aufgrund der nicht ungewohnten, doch extrem anstrengenden Haltung beim Klettern. Sie konnte weder vor, noch zurück, nicht nach links und nicht nach rechts. Sie war buchstäblich zwischen den Felsen gefangen durch das Nichtvorhandensein weiterer Alternativen.
Für Richard war klar – sie hatte sich im Kletterpfad verschätzt und nun war – absolut unerreichbar für sie – genau ein Meter zu viel zu überwinden, um auf die nächste Plattform zu kommen.
Sie war in Lebensgefahr.
Plötzlich schien sich für den Sportler alles in Zeitlupe abzuspielen. Das vor Anstrengung verzerrte Gesicht von Brix, ihre Augen bohrten sich in die Seinen und obschon er in Sicherheit war, schien es, als würde SEIN Leben vor dem inneren Auge Revue passieren, ganz so, wie man es kannte, wie man es sich erzählte, wenn Jemand dabei war zu sterben und sein Leben vorüberziehen sah…
Es war ein hochsommerlicher Tag und Richard schwitzte so stark, dass er das Gefühl hatte als würde Jemand warmes Wasser seinen Rücken entlangfließen lassen. Aber das war okay, Taylor neben ihm schwitzte genauso und sein freundliches Gesicht wirkte klatschnass noch aufgedunsener als sonst. Coach Breckenrigde hatte sie Beide zu Straftraining verdonnert. Nicht weil sie schlecht waren, ganz im Gegenteil, sondern weil sie – wie er es nannte - „Schande über das Team“ gebracht hatten. Vielleicht war es wirklich nicht die beste Idee gewesen, dem überlebensgroßen Plüsch-Maskottchen der Paloma-High einen riesigen, schwarzen Strap-On umzubinden und ihn in den Flur der Freshman zu stellen, aber was sollte man machen? Sportliche Rivalität musste gepflegt werden…
Plötzlich unterbrach Taylor seinen locker tausendsten Wurf des Footballs und starrte an Rich vorbei Richtung Schulgebäude, Naturwissenschaftlicher Trakt.
Dort sollte die Außenfassade erneuert werden und aus diesem Grunde waren dort halb aufgebaute und noch nicht wirklich gesicherte Gerüste zu finden.
Und in den spinnennetzartigen Eingeweiden kletterte in dieser Sekunde eine Gestalt herum.
Richard erkannte sie sofort – Brittaney, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte seitdem sie nun in der High School waren.
Geschickt schlang sie ihren Griff ein ums andere Mal um die Stahlstreben und kam damit ihrem Ziel – augenscheinlich ein offenes Fenster im dritten Stock immer näher.
Soweit sich die beiden Sportler erinnerten, war es ein Lagerraum für irgendwas vom langweiligen Fach Biologie.
Die beiden sahen sich verwundert an und starrten dann wieder Richtung Brix. Sie hatte das Fenster fast erreicht und stieß sich in diesem Moment vom Gerüst ab, um direkt auf dem Fenstersims zu landen, was ihr mit katzenhafter Anmut auch gelang. Wahrscheinlich grinste Brix, so vermutete Rich, doch viel wahrscheinlicher nicht für lang, denn durch den Tritt des Abstoßens war das Gerüst ins Schwanken geraten und verlor in diesem Moment die hölzernen Trittflächen, die krachend nach unten stürzten und einen Rückweg auf diesem Pfade so gut wie ausgeschlossen machten.
Wieder sahen sich die Beiden an und setzten sich wie automatisch in Bewegung, um zum Ort des Geschehens zu kommen, während Brix sich durch das offene Fenster in den Bio-Raum gleiten ließ.
Sie hatten vielleicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie wieder am Fenster erschien, nun eine Umhängetasche um die Schultern und augenscheinlich in großer Eile, sie wirkte fast gehetzt.
Und ihr schien klar zu werden, dass sie sich ihren Rückweg verbaut hatte.
Richards Herz machte einen Sprung als er erkannte, dass Brix trotzdem weiter am Fenstersims herum kletterte. Sie schien nachzudenken, es wirkte, als würde sie einfach nicht an Sackgassen glauben.
Sie streckte den Fuß aus – zu kurz.
Sie fingerte mit der Hand an der Wand herum, suchte wohl einen Griff zum Halten, doch keine Chance.
Es war im Grunde unmöglich, auf diese Entfernung zum Gerüst zu gelangen, es sei denn…
Selbst auf diese Entfernung konnte er ihre Entschlossenheit sehen, als sie mit einem irrsinnigen Sprung vom Sims in Richtung Gerüst jagte und für eine Ewigkeit in der Luft zu schweben schien.
Ein Absturz aus dieser Höhe war tödlich, keine Frage.
Der Football, der achtlos aus den Händen des starrenden Taylors zu Boden fiel macht ein ploppendes Geräusch, als Brix den Todessprung absolvierte und mit beiden Händen eine Querstange des Stahlgerüstes erwischte und behände nach unten kletterte. Nun grinste sie wirklich und die beiden Sportler starrten einander fassungslos an und dann sprinteten sie los.
Als sie angekommen waren, war Brix verschwunden und nicht mehr zu sehen.
Aber die nächsten zwei Tage sollte der Biologie-Unterricht ausfallen, denn sämtliche Lebendfrösche, die hätten seziert werden sollen, waren auf wundersame Weise verschwunden.
Sehr zum Verdruss von Miss Levensworth, die erst vorgestern noch energisch im Streit mit einer gewissen Schülerin davon gesprochen hatte, dass „das Tier dem Menschen untertan ist und locker seziert werden kann weil es eh keinen ‚echten‘ Schmerz spürt.“
Richard hatte sich die Lippe blutig gebissen, während er an diesen Tag zurückdachte, der nun drei Jahre in der Vergangenheit lag.
Nur das Brix jetzt noch höher hing und noch weniger Überlebenschance hatte.
„Fuck …“, knurrte er und starrte Sam und Zoe an. „Bindet mir das Seil um, ich springe von der Klippe und helfe ihr!“, zischte er und Beide rannten sofort los, um das Seil nach oben zu ziehen.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Es war zu spät.
Von Brix war ein letztes, gequältes, ächzendes Stöhnen zu hören und dann verließen ihre Finger die Kante, in die sie sich hineingekrallt hatte…
Rich hätte sich vor Schreck fast übergeben.
Er sah Brix ein weiteres Mal in seinem Leben in der Luft schweben. Lebensgefahr im Verzug.
Und wieder passierte das Wunder!
Mit letzter Kraft und all ihrer Erfahrung hatte sich Brix gegen den Stein gepresst und sich mit einem entschlossenen Sprung nach oben katapultiert.
Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und wurde belohnt, als sich ihre Finger in den eigentlich fast unerreichbaren Felsvorsprung über ihr krallten.
Ihre Arme zitterten, als sie sich hochzog, doch in ihren Augen war ein Funkeln, eine Stärke, eine Selbstsicherheit, die Richard schwer erstaunte.
Ihm wurde klar…
Er hatte Stärke, doch sie hatte Kraft. Willenskraft – gespeist aus Idealen und einer unerschütterlichen idealistischen Weltanschauung.
Solange Brix Ziele hatte, konnte Nichts und Niemand sie aufhalten.
Er wusste nicht wann sie so geworden war. Seit wann sie so war. Er wusste nur, er hatte sie irgendwie aus den Augen verloren und irgendwie, irgendetwas daran machte ihn für eine Sekunde traurig.
Und dann war sie fast ganz oben, routiniert hatte sie die letzten Meter geklettert.
Erst grinste Rich und dann lachte er als er Brix auf den letzten halben Meter die Wand hoch half, so wie sie ihm vorhin beim Ufer geholfen hatte.
„Na, hast du dir die Hosen vollgeschissen, Dickey?“
Richard winkte ab und blies die Backen auf.
„Bullshit, ich wusste sofort, dass du es schaffst.“
Sie grinsten einander an, einen Augenblick länger als Fremde, grade so, als würden sie einander zum ersten Mal wieder erkennen.
Und dann kam Sam dazu und vernichtete den Augenblick, als er Beiden erleichtert auf die Schulter klopfte.
Geändert von Daen vom Clan (25.05.2016 um 14:26 Uhr)
Es wirkte alles so unwirklich, beinahe wie in Zeitlupe. Sam war als erster oben angekommen, hatte noch das Seil inspiziert und dann sein okay gegeben. Dann war Rich hinterhergeklettert, der alle mit seinem Experiment kurz den Atem anhalten hatte lassen. Und zuletzt Brix, bei der es erst so ausgesehen hatte, als würde sie es nicht schaffen. Aber es war doch noch alles gut gegangen.
Jetzt standen die drei gemeinsam mit Zoe und Sarah am Rand der Klippen und während neben ihnen der Bach leise plätscherte und sich dann im Wasserfall tösend auf den Weg in den See nach unten machte, die Vögel im Wald sangen und die Sonne immer tiefer sank, sie beinahe blendete, begannen sie nun damit die verbleibenden Passagiere des Flugs nach oben zu befördern, teils selbst kletternd und gesichert, teilweise mit leichtem Zug am Seil unterstützend und teilweise auch ganz nach oben ziehend. Es war eine anstrengende Stunde, bis sie schließlich alle mit ihrem Gepäck, völlig verschwitzt oben standen, kurz die Aussicht über das Tal genossen und vergessen wollten, dass sie gestern erst hier auf der Insel abgestürzt waren. Vergessen wollten, dass sie mitten im Atlantik gestrandet waren, verschwunden aus ihrem Leben, völlig verloren. Es war ein schöner, ruhiger Moment, bevor Sarah schließlich verkündete, dass sie sich nun auf den Weg machen sollten. Dass sie im Wald still sein sollten, dass es gefährlich wäre, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und dass sie sich beeilen mussten. Die Dunkelheit brächte neue Gefahren.
Das schien der Startschuss für die Überlebenden zu sein, auf einmal schossen die Fragen nur so auf Sarah ein: "Warum bist du hier?", "Wo sind die Toten?", "Was sind das denn für Gefahren?", "Was hat es mit der Türe auf sich?", "Können wir gerettet werden?". Es schien kein Ende zu nehmen, die ganze Frustration, die sich angestaut hatte, entlud sich, nun da es eine Außenstehende gab, jemanden, der die Fragen vielleicht beantworten konnte.
"Ich werde später eure Fragen beantworten, so gut ich es kann. Aber wie gesagt, wir müssen uns beeilen. Und um Gottes Willen, seid still im Wald.", fügte sie scharf an und blickte dabei vor allem Rich und Sam scharf an.
Endlich machten sie sich auf den Weg, folgten dem Bach durch den Wald, während es um sie herum immer dunkler wurde. Schweigend marschierten sie, es war eine bedrückende Stille. Die Ereignisse der vergangenen Tage schwebten über ihnen, drückten auf sie nieder.
Ein Büro, es sieht edel aus. Holzvertäfelte Wand, ein großer Schreibtisch. Der rote Ledersessel dahinter leer. An der Wand hängen Portraits von Generälen. Die Fenster sind groß, beeindruckend. Draußen ein Garten, offensichtlich gut gepflegt. An der Decke hängt ein teurer Kronleuchter. Casey dreht sich um. Vor ihm steht ein kleiner Kaffeetisch, eine Teekanne und zwei gefüllte Tassen. In den gemütlichen Stühlen sitzen zwei Männer, beide militärisch gekleidet. Aber nicht wie normale Soldaten, nein das sind Anführer, das sind die mächtigen Befehlshaber, die entscheiden, wie es in der Welt weitergeht. Die beiden sehen so aus, als bedrücke sie etwas. In einem Aschenbecher vor ihnen liegen Überreste eines Nachmittags voller Diskussionen, voller schwieriger Entscheidungen. Dann fällt Caseys Auge auf die Zeitung, die neben ihnen liegt. Sie ist vom 8. Dezember 1941. Auf der Titelseite eine Schlagzeile über die Angriffe auf Pearl Harbour. Es ist eine amerikanische Zeitung. Die beiden Männer stehen auf und reichen sich die Hände. Der jüngere wendet sich zur Türe und sagt: "Ich werde die Einrichtung eines Spähpostens auf Middle Island veranlassen.". Das ist nicht alles was er sagt, aber alles was Casey hört. Dann war er plötzlich wieder im Wald, lief am Bach entlang, hinter Susanne. Die Müdigkeit, die Anstrengung und die Strapazen mussten ihm wohl einen Streich gespielt haben.
Dann öffnete sich der Wald wieder und sie standen auf einer offenen Fläche, einer großen Lichtung. Und in der Mitte eine Palisade, die gleichzeitig improvisiert und doch komplex und futuristisch wirkte. Der Bach führte rechts daran vorbei, führte dann wieder in den Wald. Und direkt vor ihnen lag das Tor, das offen stand. Dahinter einige kleine Häuser, die recht heruntergekommen wirkten. Und während sie dort hineinmarschierten und Sarah das Tor schloss und verriegelte ging die Sonne langsam unter.