Sie hatte sich in einen schwarzen Kapuzenpulli gehüllt. Natürlich hatte Brittney nicht vor, gesehen zu werden. Im Optimalfall verlief alles, ohne dass auch nur jemand in ihre Richtung sehen würde, zu verwirrt von dem, was vorgehen sollte. Dabei war ihr fast danach, sich mit dieser Tat zu rühmen. Immerhin hielt sie es für einen gewaltigen Coup im Kampf gegen das, was ihre Mutter ihr und allen anderen aufdrängen wollte.
Sie besah sich das Gebäude genau. Es sah aus wie die Menschen die darin sprachen. Weiß, prätentiös. Und an Stelle eines wirklich fest geschlossenen Daches gab es oben eine Glaskuppel, durch deren Transparenz man in die Leere eines prunkvollen aber inhaltslosen Saals blicken durfte. Gestatten - das Gemeindezentrum. Von der Hauptseite her konnte sie leise das langweilige Stimmengemisch hören, während ihre Mutter - der große Star dieser Veranstaltung und eine Gefahr für jeden gesund Denkenden - noch auf sich warten ließ. Das Mädchen besah sich die Flyer in dieser Hand und las die Informationen, die sie gesammelt hatte. Allesamt Fakten, die gegen die politische Agenda dieser Frau sprachen, die sie am Liebsten nie als Familie gehabt hätte. Sie hatte sie inzwischen so oft verlesen, dass sie die einzelnen Punkte aus dem Gedächtnis hätte aufsagen können, entsprachen sie immerhin auch ihrer Überzeugung. Sie checkte das fast nüchtern Aufgeschriebene - irgendwie musste man sich ja den langweiligen Adressaten anpassen - nur, um sich die Nervosität zu nehmen. Immerhin war das hier etwas anderes als nachts in das Schulgebäude einzusteigen
Kurz darauf konnte sie auf der Gegenseite die großen Flügeltüren hören. Das war ihr Signal. Blicke nach rechts, links und hinten versicherten die Rebellin, dass sie nicht beobachtet wurde. Dann ging es los. Das erste Stück würde das schwerste werden. Ein nahe am ungenutzten Hintereingang und dem kleinen Vordach stehender Baum sollte den Anfang darstellen. Die Menge an Flyern wurden in den Bauchtaschen verstaut, bevor sie nach dem ersten Ast griff, ihr festes Schuhwerk - sie hatte sich für diesen Zweck klobige Springerstiefel angezogen - sich an den Baum setzte und sie sich mehr mit Schwung als mit Kraft hochzog. So nutzte sie die einladende Verästelung der Natur - die bezeichnenderweise auch das war, was ihre Mutter an anderer Stelle in weitaus höherer Anzahl abholzen und durch Industrie ersetzen wollte - um sich Stück für Stück hinauf zu schwingen. Kurz unterhalb der Krone testete sie mit einem Fuß den Ast an, der ihr die Möglichkeit für etwas Anlauf geben sollte. Er fühlte sich im ersten Moment sicher an, knackste bei eben diesem Anlauf dann doch und wackelte gefährlich als sie schließlich zum Sprung ansetzte, doch hielt stand. Mit einem leichten Schmerz im Schienbein landete sie auf dem Vordach, an dem der weiße Putz noch unberührt schien. "Yes!"
Den ihrer Einschätzung nach gewagtesten Teil der Aufgabe hinter sich lassend, blickte sie hinauf. Auch das nun Folgende würde kein einfaches Zuckerschlecken werden. Von hier oben sah es dann doch schwierig aus. Oder besser: Es wirkte machbar, jedoch würde ein Fehler auch ein schnelles Abrutschen zur Folge haben. Und das könnte böse enden, wenn sie nicht das Glück hatte, wieder auf dem Vordach zu landen. Sie war aber nicht so weit gekommen, um dann den Schwanz einzuziehen. "Weiter geht's!", spornte sie sich selbst an und suchte zu ihrer Rechten nach einem Vorsprung, den sie entdeckte, doch der ihr zu weit schien. Zur Linken sah es besser aus. Ein weiter Ausfallschritt und sie stand in einem halben Spagat zwischen Vordach und einem kleinen weißen Etwas, auf das gerade noch ein zweiter Fuß passte, den sie in einem nächsten Manöver nachzog. Brittney beging den Fehler, nach unten zu sehen und musste sich für einen Augenblick fangen, wenn es doch auch nur wenige Meter waren, die sie vom Boden trennten. Weniger jedenfalls als beim 10-Meter-Brett im Freibad, in dem jedoch wenigstens Wasser dafür sorgte, den möglichen Aufprall erheblich abzufedern. Der sorgfältig gepflegte Grasboden hier war zwar weich, aber nur solange man nicht aus geschätzten fünf Metern auf ihn fiel, ohne es zu wollen.
Nun zog sie sich hinauf auf eine über ihr befindliche, recht ausladende Art Bordüre am Gebäude. Für einen Moment hingen ihre Beine - die durch die Stiefel ganz schön schwer wiegten - dabei frei in der Luft, bis sie sich mit schmerzenden Knien auch auf dieses feste Schmuckstück ziehen konnte. Dieses Mal verbot sie sich selbst, einen Blick zurück zum Grund zu werfen. Das würde sie beim Herunterklettern noch früh genug tun. Von hier aus durfte sie immerhin einige gerade Schritte in Richtung Kuppel gehen, die nun das einzige war, was sie noch von ihrem Plan trennte. Brittney überwand also die wenigen Meter und blickte durch eines der doch recht großen Fensterstücke, das sich auf ihrer Höhe befand. Sie erwischte wohl den genau richtigen Moment, in dem der Moderator der Veranstaltung - als hätte man nichts besseres zu tun - gerade ihre Mutter ans Pult bat, von dem sie so schnell wohl nicht wieder wegtreten würde. Am besten beeilte sie sich nun, damit diese Frau gar nicht erst anfangen konnte, die Gehirne der Leute zu waschen, die sich doch zahlreich eingefunden haben. Sie vergewisserte sich mit einem schnellen Griff in die Bauchtasche davon, dass die Zettelchen, die sie gleich wie Konfetti in die Menge hinabsinken lassen würde, noch da waren und griff dann an ihren ersten Haltepunkt. Die einzelnen Fensterchen von etwa zwei Quadratmetern waren von kleinen Metallstreben umsäumt, die als Einfassung dienten, sich aber auch perfekt dafür eigneten, an ihnen hinaufzusteigen. Das verursachte immerhin auch weniger Geräusche als das Treten auf die Fenster. Und leise musste sie sein, wenn sie hier schon mitten auf dem sonnendurchfluteten und halb-durchsichtigen Präsentierteller war. Wenigstens schienen die Scheiben ein kleines bisschen getönt, wohl um vor eben diesem Lichteinfall zu schützen. Das würde verhindern, dass ihr Schatten den Leuten in der Halle vor der Nase herumtanzte oder man sie mit einem - von der Rede ihrer Mutter gelangweiltem - Blick nach oben sofort sah, ohne sie nicht vielleicht erst mal für einen Vogel zu halten, den das Lichtspiel der Sonne größer zauberte als er eigentlich war.
Gesteuert von der Angst, gesehen zu werden, blickte sie immer wieder durch die Scheibe nach unten. In diesen Momenten war sie umso dankbarer über die leicht glasige Halbtransparenz. Sähen diese Fensterchen anders aus, wäre sie sich wohl vorgekommen, als würde sie mitten in der Luft liegen, oder stehen. Auch die dünnen Metallstangen, die immer wieder Halt für ihre Füße und Hände waren, gaben ihr die nötige Sicherheit. Drinnen blieb es - abseits von gelegentlichem Applaus, der unverständlicherweise wohl der Rednerin galt - ruhig. Niemand machte sich also Sorgen über die Fassadenkletterin im auffällig schwarzen Outfit. Oder bemerkte sie überhaupt.
Ein innerlicher Freudeschrei folgte als sie endlich - das Klettern machte sich auch langsam in ihren untrainierten Armen bemerkbar - die höchste Stelle des Daches erreichte und wohl froh darüber sein konnte, dass das kleine Kippfenster an dieser Stelle durch eine etwas dickere Metallstange offen gehalten wurde. Brittney zog den linken Fuß nach und positionierte ihn auf dem letzten Zwischenstreben, den sie brauchen würde. Den Halt verlagerte sie in diesem Moment auf ihre beiden Beine und nur eine Hand, die sie zudem etwas vom Glas wegdrückte, um mit der anderen nach der Masse an Flyern zu fischen, die gleich hoffentlich ihrer Vorstellung entsprechend in dynamisch-willkürlicher Verteilung in den Raum flogen.
Als sie sich wegdrückte, musste sie auch das rechte Bein zur Seite hieven, um mit den Fingern ihrer rechten Hand Zugang zur Bauchtasche zu finden. Dabei rutschte sie ab und knallte mit dem schweren Stiefel auf ein Fenster darunter. Es passierte wie in gedrosselter Geschwindigkeit. Ihre Finger hatten gerade das Papier im Inneren ihres Hoodies erreicht, da hörte sie es klirren. Ihr Fuß sackte durch das Fenster, während die kleinen Splitter an Stelle der Flyer auf das versammelte Volk niederregneten. Sie konnte in ihrer Panik nur erschrockenes Aufrufen hören, hoffentlich nicht begleitet von Schmerzensschreien. Mit einem Ruck zog sie ihren Fuß heran und ließ sich dann herab sinken. Die Zettelchen rutschten zum Teil aus der Tasche, blieben zu allem Überfluss jedoch auf einem heilen Fenster liegen, während sie gerade so am eingeschlagenen Fenster vorbeirutschte, sich durch das unfreiwillig schneller werdende Absacken immer wieder an diversen Metallstreben die ohnehin nicht unversehrte Jeans aufritzte und auch den ein oder anderen kleinen Schnitt in die Haut erfuhr. Brittney biss sich auf die Zähne, die klobigen Schuhe nahmen im Vorbeigleiten noch fast ein weiteres Fenster mit. Dann landete sie auf der breiten weißen Fläche, nicht einen Moment zögernd, bevor sie weiter lief. Ihre oberste Priorität war nun, hier weg zu kommen. Und so stürzte sie sich auf die Verzierungen am Rand, die sie zuvor hinaufgeklettert war, schwang sich auf die winzige Plattform unter ihr, kam ins Straucheln und nutzte den versehentlichen Schwung, um auf das Vordach zu springen. Von dort aus war es noch immer zu hoch, um gefahrlos zu Boden zu hüpfen, weswegen ihr vorläufiges Ziel wieder der Baum war. Diesen sprang sie mehr schlecht als recht an, holte sich mehrere Peitschenhiebe der Äste ab, bevor sie doch irgendwie an und auf etwas landete - nicht jedoch, ohne dann sofort weiter abzurutschen und von einem Ast zum nächsten zu stürzen, am Ende glücklicherweise nur aus wenig Entfernung mit der Schulter dennoch schmerzhaft auf dem sichtbaren Teil der Baumwurzel zu landen.
"Hey, du!", hörte sie eine entlarvend klingende Stimme hinter sich und stand schnurstracks auf. Ohne einen Blick in Richtung eben dieser Stimme zu werfen, rannte sie in die entgegengesetzte Richtung, den fürchterlichen Schmerz in ihrer Schulter ignorierend. Wenigstens im Weglaufen war sie geübt und lief so lange weiter -womöglich sogar durch Vorgärten der Suburbs - bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Glücklicherweise hatte sie niemandem von ihrem Vorhaben erzählt. Im Nachhinein würde sie wohl behaupten, sie hätte das Dach mit einem Ziegelstein eingeworfen.
***
"Hey BRITTANEY, keine Sorge! Wenn du abstürzen tust, rette ich dich!!"
Die Erinnerungen an ihre letzte, verunglückte Kletterpartie ließen Brix nicht los, als sie die Felswand hinaufstieg. Und so war es nur eine Frage der Zeit, dass ihre Arme ihr Gewicht nicht mehr halten konnten und sie fiel. Dabei drückte sich die 19-Jährige noch von der Wand ab, um nicht zu nah am Stein zu stürzen. Zum Glück hatte sie es nicht weit nach oben geschafft und glitt so gefahrenfrei aus nur wenigen Metern ins Wasser, spürte sogar noch Hände, die ihr Fallen abfederten. Das einzig Unschöne waren wohl die Erinnerung an vergangene Eskapaden und die gefühlten Mengen an Wasser, die beim Eintauchen in ihre Nase drangen.