“Naja, wenn du DAS nicht verstehst, mein Lieber, dann bist du wohl nicht so clever, wie du dich selbst gerne gibst. Plato darf man immer nur auf der Metaebene betrachten und insofern ist dieses Höhlengleichnis ein Sinnbild für die menschliche Seele an sich und muss von verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Neben der interpersonellen Ebene spielt da auch die antike Gesellschaft als solche eine entscheidende Rolle in den variierenden Blickwinkeln, unter denen die Interpretation möglich scheint. Alleine schon, dass du mich fragst, wie es zu interpretieren sein, zeigt, dass du deinem Lehrer schlicht und ergreifend nicht richtig zugehört hast.”
…huh?
Inter… was? Ich merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt, nuschele irgendetwas und wende mich schnell ab. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, was ein Höhlengleichnis ist und worum es da geht - der Kumpel, der Philo hat, ist leider nicht die hellste Leuchte - und da die Frage eh halb geflunkert war, lässt mich Zoes Abfuhr auch relativ kalt. Ich hatte das Fach ja nie.
Der Grund, warum ich gerade heftig blinzeln muss, ist ein anderer. Zum Einen ist da das ehrlich schlechte Gewissen, dass ich Zoe so prompt und vollständig misstraut habe. Zum Anderen ist da einfach die Tatsache, dass ich fast kein Wort verstanden habe.
Wörter an den Kopf geknallt zu bekommen, die ich nicht verstehe, bin ich gewohnt. Das war so, als ich nach Amerika gezogen bin und noch viel, viel schlimmer, als ich nach Deutschland kam - da verstand ich am Anfang immerhin kein Wort und es gab mehr als ein paar Jungs, die einen Mordsspaß daran hatten, mir falsche Sachen beizubringen, nur um dann kichernd zuzugucken, wie ich in Schwierigkeiten geriet ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, wofür eigentlich.
Für die war das lustig, für mich war es ein furchtbares Gefühl: Komplett darauf angewiesen, meinen völlig fremden Mitschülern zu vertrauen, nur um dann zu merken, dass ich reingelegt wurde. Nachdem das ein paar Mal vorgekommen war verloren auch die Lehrer das anfängliche Verständnis für meine Situation und meine Eltern bekamen Post. Die sich dann mein Vater übersetzen lassen musste, nur um von einem Fremden zu erfahren, dass sein Sohn nach nichtmal 6 Wochen an der neuen Schule schon Schwierigkeiten machte.
Ensue a huge fight, shouting, accusations, disappointment on both sides, feeling alone and terrible. Es hat schon seinen Grund, warum ich mir angewöhnt habe, die meisten meiner Gedanken für mich zu behalten.
Meine neue Wortkargheit führte dazu, dass ich noch schlechter wurde, was lediglich zu einem noch größeren Krach führte (recurring key words that stuck with me: “troublemaker”, “ungrateful”, “lazy”, “useless”).
Irgendwann wurde ich dann zwar warm mit der neuen Sprache, lebte mich ein und fand endlich Anschluss, aber die Angewohnheit, lieber die Klappe zu halten als zu riskieren, etwas falsches zu sagen, blieb.
Kurzfassung: Die beste Art, mich zu treffen, ist, mir Wörter an den Kopf zu werfen, die ich nicht verstehe. Aber weil das letzte, was irgendwer hier jetzt braucht der nächste Idiot ist, der wegen irgendeines Kleinkrams ausflippt, zwinge ich mich dazu, tief durchzuatmen und mich wieder auf den Text zu konzentrieren.
Okay, das Ding fängt scheinbar im März 1983 an, aber da liegt auch schon das Problem: Nicht nur sind die Seiten inzwischen deutlich bunter als für Papier gesund sein sollte (was vermutlich unter anderem daran liegt, dass eine Höhle hinter einem Wasserfall nicht der beste Ort ist, um alte Bücher aufzubewahren), auch ist die Schrift eine deutlich andere als die, die ich in der Schule gelernt habe. Im Englischen gab es zwar dem Himmel sei Dank nicht wie im Deutschen ständig Rechtschreibreformen, aber auch so reicht es, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Je mehr ich die Zeichen anstarre und versuche, Verbindungen zu erkennen, umso schlimmer wird es. Ich würde am liebsten den Stift in den Block rammen, aber abgebrochene Minen bringen uns auch nicht weiter.
Das bringt so nichts. Nicht mal einen blöden Text lesen kann ich, denke ich und das schlechte Gefühl von eben nimmt Stück für Stück zu.
Ich versuche noch ein bisschen weiter mein Glück, komme aber absolut nicht voran. Eher im Gegenteil: Ich fange an, Fehler zu machen und meine Notizen machen das Chaos eher noch schlimmer. Schließlich gebe ich auf.
“Ich....ich werde aus dem Zeug hier einfach nicht schlau. Tut mir Leid…”
“Kein Problem, Iker. Vielleicht kann Nova ja nochmal einen Blick darauf werfen?”
…das hatte ich befürchtet. Vermutlich wäre das hier viel schneller gegangen, hätte ich mir nicht vorgemacht, ich hätte irgendwas beizutragen.
Ich merke kaum, dass Nova mir das Buch und den Stift aus der Hand nimmt; ich bin zu sehr damit beschäftigt zu vermeiden, irgendwen anzusehen. Oder daran zu denken, dass, in einer anderen Welt, ich jetzt längst bei meinen Freunden in New York wäre.
Dass ich Eis essen und schwimmen gehen würde.
Dass ich stattdessen mutterseelenallein mit einem Haufen Fremder hier bin.
Dass ich auf einer verfickten Insel bin, die gar nicht existieren dürfte.
Dass wir nicht wissen, ob die Rettung noch Tage, Wochen oder gar Monate weit weg ist.
Dass wir nur eine Blechhütte haben, die uns jederzeit nachts erschlagen könnte.
Dass wir nichts zu essen haben.
Dass wir hier mit Leuten sind, die Waffen haben und die Leichen verschleppen.
Dass wir nicht wissen, ob wir überhaupt gerettet werden.
Don’t think of a pink elephant.
“Hey. Schau mich mal an.”
Novas Stimme direkt neben mir reißt mich aus meiner Gedankenspirale. Widerwillig drehe ich leicht den Kopf und hoffe, dass die Haare im Gesicht kaschieren, dass ich den Tränen nahe bin.
“Wenn Ross das Buch für schwierig hält, ist es keine Schande, wenn du Probleme damit hast. Du hast gestern gute Arbeit geleistet. Wir schauen uns das hier jetzt zusammen nochmal an und sehen zu, was wir gemeinsam herausfinden.
Keine Ahnung, was dich gerade so mitnimmt, aber hier könnten wichtige Hinweise auf unsere Lage drin stehen. Lass uns uns also jetzt darauf konzentrieren und wir reden nachher oder heute Abend nochmal.”
Ich schließe kurz die Augen. Ich weiß nicht, ob Nova das nur sagt, weil sie erraten hat, was ich denke und mich trösten will, aber sie hat Recht. Das Buch hat jetzt Vorrang. Dieser pragmatische Gedanke hilft mir, mich wieder etwas zu fassen und zumindest für’s Erste meine Disziplin zurückzuerlangen. Nach einmal tief durchatmen sehe ich sie an und nicke.
“Sí.”
Dann ziehe ich (zugegeben sehr unmännlich) die Nase hoch, reibe mir die Augen und beuge mich mit ihr zusammen noch einmal über das Buch.