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Thema: Nummer 811919 [kreatives Schreiben]

  1. #1

    Nummer 811919 [kreatives Schreiben]

    Nummer - 811919

    Er steht am Straßenrand. Der warme Atem dringt schwer aus seinen Lungen
    und kondensiert an der kalten Morgenluft.
    Er stellt sich den Mantelkragenhoch und schnürt den alten rotbraunen Strickschal
    enger um seinen Hals.
    Sein Blick folgt trüb einer Kolonne aus Leibern in dünner Kleidung und müden
    Füssen. Langsam kommen sie voran, im Gänsemarsch.
    "Weiter, weiter," der Uniformierte treibt sie an.
    Die Kinder stolpern ihren Eltern nach, die Händchen eingequetscht in denen der
    Mütter, voller Angst sie könnten sie verlieren und nicht wieder finden.

    Er blickt ihnen weiter nach.
    Dieses Elend, er kennt es aus einer anderen Zeit, auch erst stand einst in Reih
    und Glied und ging seinem Schicksal entgegen.
    Ein Drahtzaun säumt die Straße, dahinter Verschläge. Ein Provisorium, nichts weiter.
    Lange würden sie ohnehin nicht bleiben.
    Der Weitertransport ist schon geplant.
    Wie viele werden den Winter überleben? Er weiß es nicht, doch in seiner Zeit waren es wenige.

    Die Registrierung geht schnell von statten, "Name, Alter, Herkunft ? Der Nächste !"
    Dann werden sie in das umzäunte Lager gebracht und verschwinden aus seinem Blickfeld.

    Nun sind sie nur noch Nummern. Nummern auf Listen. Listen in den Händen Anderer.
    Nummern sind Zahlen, Zahlen die sich summieren.
    Ist das Ergebnis zu hoch, muss reduziert werden.
    Reduzierung bedeutet über Leben und Tot zu entscheiden.
    Zahlen haben keine Gesichter, keine Geschichte, keine Zukunft außer Subtraktion.
    Sie brauchen Platz für neue Zahlen.

    Dunkler beißender Rauch steigt zum Himmel. Er riecht die Asche.
    Wieder verbrennt ein Stück Zukunft für die Wartenden am Zaun.

    Er schiebt sich den linken Mantelarm hoch. Die Haut ist faltig und wettergegerbt,
    doch die Tinte der Tätowierung ist noch gut zu erkennen. Sie waren gründlich.
    Eine sechsstellige Zahl.
    Er dachte, es wäre vorbei. Das Land nun ein Besseres.

    Das Martinshorn reißt ihn aus seinen Gedanken.
    Er wird nachhause gehen. Der Rauch hinter dem Erstaufnahmelager breitet sich aus.
    Heute Abend wird er es im Fernsehen hören, "Wieder ein Flüchtlingsheim in Flammen!"

    Geändert von Wohan (22.01.2016 um 20:53 Uhr)

  2. #2
    Sehr atmosphärisch, gerade durch den Stil und die Bilder!

    Zitat Zitat
    Nun sind sie nur noch Nummern. Nummern auf Listen. Listen in den Händen Anderer.
    Nummern sind Zahlen, Zahlen die sich summieren.
    Ist das Ergebnis zu hoch, muss reduziert werden.
    Reduzierung bedeutet über Leben und Tot zu entscheiden.
    Zahlen haben keine Gesichter, keine Geschichte, keine Zukunft außer Subtraktion.
    Sie brauchen Platz für neue Zahlen.
    Der Teil hier ist glaub ich etwas zu lang für die emotionale Wirkung, auf die der Text abzielt. Funktioniert vielleicht besser, wenn man ihn auf zwei oder drei Zeilen herunterbricht. Ist aber evtl. auch nur meine Wahrnehmung. Die Bindung an die Überschrift ist ja schon inhaltlich gegeben, die muss man nicht unbedingt weiter im Text verankern.

    Zum Ende bzw. zum Inhalt allgemein: Ich bin kein sonderlich "mitdenkender" Leser, aber man erwartet ziemlich früh etwas in diese Richtung, und selbst dann kommt das Ende irgendwo enttäuschend direkt rüber. Das liegt aber auch daran, dass es stilistisch wie ein richtiger Twist aufgebaut ist, von wegen "die Dinge erst in der letzten Zeile beim Namen nennen" und sowas. Wenn der Text auf eine so typische Spannungskurve verzichten würde, würde man wohl auch inhaltlich weniger (Überraschung) erwarten und das naheliegende Ende eher als das aufnehmen, was es ist.

    Zitat Zitat
    Er wird nachhause gehen. Der Rauch hinter dem Erstaufnahmelager breitet sich aus.
    Heute Abend wird er es im Fernsehen hören, "Wieder ein Flüchtlingsheim in Flammen!"

  3. #3
    Der Text war das Ergebnis einer zwei Personen Gruppenarbeit, im Gebiet des kreativen Schreibens, wo jeder für sich etwas zu schreiben versuchte. So kam der Text eher spontan zu Stande, aber schon mit der klaren Idee auf was ich abzielen wollte - meine Kollegin schrieb über den Spaziergang mit ihrem Hund, was sich am Ende doch sehr mit meinem Text biss XD
    Ursprünglich war er anders aufgebaut, nämlich so das es nur zwei/drei Zeilen Absätze gab, immer angeführt von dieser Zahl, als eine Art Stimme, die aus der Vergangenheit immerwieder seine Gefangenennummer scharf spricht, quasi das Echo des einstigen Wärters - die Überschrift /Titel gab es zu diesem Punkt noch nicht. Erst als es fertig war suchte ich einen Titel und entschied nach langen ergebnislosen Krübelns dann die Zahl, die vor jedem "Absatz" stand wegzustreichen und es als Überschrift zu nehmen- Wobei es zu Beginn auch eine zufällig gewählte Zahl war und erst im weiteren Verlauf zu dieser wurde, mit der Absicht, das die Zahlen ein WORT ergeben sollte, wenn sie dem Alphabet zuordnet , in dem Fall 8-1-19-19 - was dem Wort H.A.S.S. entspricht, was mich noch immer nciht 100% zufriedenstellt, aber es zumindest nun überhaupt ein Titel gibt ^^.

    Natürlich könnte man noch viel herumdoktorn und korrigieren. - Was diesen Twist angeht, so erging es einem anderen Leser genau andersherum als dir, für ihn machte es erst am Ende wirklich "klick" als er merkte:
    " Das ist ja garnicht die Vergangenheit, das ist ja HEUTE "

    Wenn ich mir den oben , von dir zitierten Absatz nochmal vornehme, so wäre es sicher möglich die 4. und 5. Zeile heraus zunehmen :

    Nun sind sie nur noch Nummern. Nummern auf Listen. Listen in den Händen Anderer.
    Nummern sind Zahlen, Zahlen die sich summieren.
    Ist das Ergebnis zu hoch, muss reduziert werden.
    Sie brauchen Platz für neue Zahlen.

    Geändert von Wohan (26.01.2016 um 23:03 Uhr)

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