Die dunklen, schweren Stiefel passten überhaupt nicht zu der restlichen zurechtgemachten Erscheinung der rothaarigen Frau, die sich einen Weg durch den alten Bunker bahnte, wo emsiges Treiben herrschte. Auch die schwarzen Muster und bunten Symbole, die sich von den Unterarmen bis zu ihren Schultern hinaufzogen – auf Ewigkeiten in die Haut geritzt – passten nicht zum Gesamtbild.
Als die Frau das Gebäude verließ, begegneten ihr weitere Menschen. Fröhliche Menschen, beschäftigte Menschen… welche die sie kannte und andere, deren Gesichter sie noch nie gesehen hatte. Alle starrten sie an. Teilweise verwundert und musternd, da ihr Outfit nun wirklich seltsam wirkte, aber größtenteils wurde sie mit einem breiten Lächeln begrüßt. Die Leute kannten sie jetzt, auch wenn sie ihr selbst unbekannt waren. Evangelina. Der Name war nun fast allen Menschen ein Begriff.
Evi nickte hin und wieder freundlich in irgendwelche Richtungen, beeilte sich aber, um schnell weiter zu kommen. Sie verließ die üblichen, mittlerweile eingetrampelten Wege bald und stapfte sehr undamenhaft durch den Wald. Gut, dass sie die Stiefel angezogen hatte.
Nach einer Weile erreichte sie ihr Ziel und hielt kurz inne, um den Anblick wieder einmal in sich aufzunehmen. Da, wo vor zwei Jahren Vultures, Skypeople und Siedler von Sheng’s Hope eine unvergessliche Nacht lang miteinander am Lagerfeuer gefeiert hatten, türmten sich kleine Erdhügel. Aus ihnen ragten Holzpflöcke – teilweise verziert, beschnitzt, mit Bändern behangen oder als Kreuze dargestellt. Keines dieser Gräber war ungepflegt oder schmucklos.
Evi atmete tief durch und ging hoch erhobenen Hauptes zu einem der Hügel, der recht nahe am Waldrand lag. Der Schatten eines Baumes streifte das Holzkreuz, auf dem eine Kette mit einem schimmernden Anhänger hing. Eine schwarze Katze räkelte sich direkt am Waldrand und richtete die großen Kulleraugen auf die Taucherin.
„Ich weiß, ich bin etwas spät, aber du hast es dir ja gemütlich gemacht, Snowball.“ Evi kraulte Snowball kurz und wurde mit einem spielhaften Hieb auf ihre Stiefel belohnt. Die langen Schuhbänder waren irgendwie immer der Hit.
Die Katze stromerte gerne im Freien herum, aber jeden Abend kehrte sie nach Hause zurück, also in Evis und Shengs Zuhause. Und regelmäßig war sie auch an diesem Grab zu finden – meist an dem Tag, an dem auch die Taucherin ihren Routinebesuch auf dem Friedhof machte.
„Okay, hier bin ich also.“, sagte Evi schließlich an das Grab gerichtet, stemmte ihre Hände in die Hüften und drehte sich einmal um die eigene Achse. Das Kleid, das sie trug, flatterte im Wind. Es war eigentlich einmal ein weißes Unterkleid gewesen – wozu man das früher auch immer gebraucht hatte – und die Träger waren deshalb aus Spitzen, genauso wie der unterste Rand am Rock. Der Stoff war leicht und fühlte sich an wie Federn auf der Haut.
Sie hatten versucht das Kleid umzufärben und türkis zu machen, aber es wirkte eher hellblau. In die Spitzen an den Trägern und am Ausschnitt hatten sie breite, türkise Bänder eingewoben, die eigentlich auch einmal nur irgendwelche Stoffetzen gewesen waren. Insgesamt sah es nun aber doch ziemlich fein aus, weil Evi fähige Hände gehabt hatte, die ihr geholfen hatten…. Beziehungsweise fähige Hände, die eigentlich alles alleine gemacht hatten.
Jedenfalls, wären die Stiefel nicht gewesen, dann hätte man fast meinen können, hier eine – wie Will es einmal gesagt hatte – echte Dame vor sich zu haben.
„Tja, Eryn. Es hat zwar etwas gedauert, aber wie versprochen trage ich ein hübsches Kleid, das nur dir stehen würde.“ Evi grinste den Anhänger auf dem Holzkreuz an und setzte sich ungeniert im Schneidersitz vor das Grab. „Du hattest das bestimmt schon vergessen, oder? Aber ich halte meine Versprechen! Ich habe nur so lange gebraucht, weil ich natürlich ein Kleid wollte, das wie deines ist. Finde sowas mal. Ellen hatte ja glücklicherweise allen möglichen Kram gebunkert, aber sie hatte auch nicht ganz deinen Style, das weißt du ja. Und seit sie in ihre Heimat zurückgekehrt ist, wird der Raum, der damals mit ihren Schmuckstücken voll war, ja auch ganz anders genutzt. Aber letzte Woche hatte ich dann Glück, weil ich eine wirklich nette Frau wieder gesehen habe, die mir geholfen hat. Also, es kommen ja dauernd Leute her, weil wir leicht zu finden sind und das Heilmittel ja auch hier verbreiten, aber das war schon etwas Besonder…“ Evi hielt kurz inne, als sie Snowball neben sich spürte, die sich langsam an die Bänder an ihrem Kleid heranpirschte. Etwas unwirsch holte sie das Kätzchen zu sich auf den Schoß, und richtete den Blick dann wieder auf das Grab. „Also am besten erzähle ich dir alles von vorne, ja?“
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„Es waren immer nur Kultisten?“ Sheng lehnte an der Mauer des Bunkers, in dem er Ellens Radio übernommen und weiter ausgebaut hatte. Die Tätigkeit war sein ganzer Stolz und schon kurz nach der Gewinnung des Heilmittels hatten sich seine Nachrichten wie ein Lauffeuer verbreitet. Er war inzwischen die berühmteste Stimme des Landes und der Silverhorn Golf Club der bekannteste Ort im weiteren Umkreis. Während viele der Helden, die damals hier gekämpft hatten, weitergezogen waren, um das Heilmittel so zu verbreiten und ihre persönlichen Wege zu beschreiten, waren Sheng und Evi mit ein paar wenigen anderen hier geblieben. Inzwischen war eine Siedlung am Entstehen, es gab immer mehr Handelsmöglichkeiten und zahlreiche Reisende, die hier etwas vom Heilmittel wollten und Neuigkeiten brachten. Wingman hatte von einem Durchreisenden erfahren, dass im weiteren Umkreis von San Antonio hin und wieder tote Kultisten gefunden wurden, während die Gegend mittlerweile eigentlich als immer sicherer galt.
„Ja, und es deutet alles auf menschliches Vorgehen hin. Vielleicht sogar auf etwas Persönliches…“, antwortete der beste Freund von Sheng, der auch hier für die Sicherheit zuständig war, mit einem nervösen Augenzucken. Evi, die neben ihm stand, begann zu grinsen. „Klingt doch gut! Oder nicht? Hey, das sind doch gute Neuigkeiten!“ Wingman und Sheng tauschten einen unsicheren Blick. „Also ehrlich gesagt, ich weiß nicht ob ich besorgt oder stolz sein soll.“, seufzte der Asiate. Evi legte ihren Arm um seine Schultern. „Beides, mein Lieber. Du bist IMMER beides, wenn es um Haile geht.“ Sie küsste den Mann, den sie mehr liebte als alles andere in dieser schönen, neuen Welt, auf die Wange.
„Wichtig ist doch, dass es ihr gut geht. Und so lange irgendwo tote Kultisten gefunden werden, ist alles gut. Ich bin sicher, dass sie uns irgendwann besuchen kommt und nur so sprüht vor Leben. Sie ist unzerstörbar, sie lässt sich nicht aufs Kreuz legen. Also, außer von-.“
„Evangelina!“
Die schneidende Stimme gehörte weder Wingman, der schon empört den Mund geöffnet hatte, noch Sheng, der solche Details über Haile lieber nicht diskutierte. Und etwas an der Art, wie der Name ausgesprochen war, ließ Evi zucken. Sie fühlte sich aus irgendeinem Grund wie ertappt und drehte sich zu der Stimme um.
Dort stand eine Frau mit ergrautem Haar und strengen, blauen Augen. Ihre schmalen, zusammengepressten Lippen formten sich aber schnell zu einem Lächeln, das ihr Gesicht faltiger und sofort freundlicher aussehen ließ. Evi traute ihren Augen kaum.
„Dolores?“
Die Frau nickte und wurde sofort von der Taucherin bestürmt und gedrückt. „Meine Güte, Lori!! Wie lange ist das her? Du lebst! Du bist… wie bist du in deinem Alter bloß hierher gekommen?“
Dolores löste die Umarmung und räusperte sich. „Also wirklich. Ich sehe schon, dir hat immer noch niemand die nötige Höflichkeit beigebracht.“ Sie untermalte die strengen Worte mit einem kleinen, freundlichen Zwinkern.
„Nun, als ich gehört habe, dass die kleine Evangelina Nikos eine Heldin ist, musste ich mich sofort auf den Weg hierher machen. Das hat natürlich ein Weilchen gedauert, aber ich kann sehr störrisch sein, wenn ich mir etwas vornehme. Und Garret hier hat mir sehr geholfen.“ Sie deutete auf einen gut aussehenden Mann, der höflich lächelnd neben ihr stand und der offensichtlich jünger war als sie – höchstens Ende 40.
„Aber wenn du irgendwie Kontakt gesucht hättest, dann hätte auch ich mal vorbeischauen können. Äh, vermutlich. Je nachdem wo du warst.“, sagte Evi, aber Dolores schüttelte den Kopf.
„Es ist eine merkwürdige Fügung, aber ich kenne aus eurer Heldentruppe nicht nur dich.“ Die Taucherin zog überrascht die Augenbrauen hoch, als die ältere Frau ihren Blick auf Sheng richtete.
„Dass ausgerechnet aus Ihnen doch noch etwas geworden ist, hätte ich nie gedacht.“ Sie schürzte die Lippen.
Sheng lief rot an und ihm schienen die Worte zu fehlen. Man konnte ihm ansehen, dass er erst jetzt erkannte, wer diese Frau war.
Evi lachte etwas verlegen und legte ihre Hand auf Dolores‘ Schulter. „Warum gehen wir nicht ein bisschen spazieren? Wir haben so viel aufzuholen!“ Und etwas leiser fügte sie hinzu: „Der Kerl ist meine Große Liebe, den willst du doch nicht beleidigen?“ „Der?“, rief die ältere Frau überrascht aus und wollte sich gleich noch einmal an ihn wenden, aber Evi zerrte sie bestimmt weiter weg.
Der Weg führte die beiden zu den kleinen Häuschen und Bauten, die immer mehr Menschen, die bleiben wollten, ein Zuhause boten. Dort setzten sie sich auf eine Art Bank, die eigentlich nur aus einem großen Stein mit Holbrettern darauf bestand, und redeten bis zur Dämmerung.
Dolores hatte offenbart, dass sie vor mehr als zwanzig Jahren mit einigen anderen Adam überhaupt erst gefunden hatte. Und Evi hatte es geschafft, Dolores eine umfassende Beschreibung davon zu geben, was sie seit dem Fund von Adam alles erlebt hatte.
„Wie faszinierend, dass eine völlig andere Generation das, was wir angefangen haben, beenden musste. Es ist so viel Zeit vergangen. Ich frage mich, wie Adam all die Jahre verschwunden sein konnte… “ , sagte Dolores nachdenklich. Ihre Gedanken schienen schließlich abzuschweifen und sie rümpfte die Nase leicht. „Wir hätten uns damals aber sicher nicht mit irgendwelchen Wilden verbündet. Das erklärt aber immerhin diese schrecklichen Tätowierungen.“ Bevor Evi sich beschweren konnte, sprach die ältere Frau weiter: „Und Léo gehört auch zu denen? Ist ihre Anführerin geworden? Die kleine, süße Léo?“ Evi prustete. Kleine, süße Léo?
„Vielleicht ist es ganz gut, dass sie nicht hier ist, du würdest vermutlich einen Herzinfarkt bekommen. Aber ja, Léo ist eine starke Frau geworden.“
„Ob Clover sie jemals wieder gesehen hat?“
„Ich weiß nicht… Hast du Clover jemals wiedergesehen?“
Dolores lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich habe sie ja auch nicht mehr gesucht, nachdem ich entschieden hatte, sie in Frieden leben zu lassen.“
„Das ist fünfzehn Jahre her, manchmal ändern sich Meinungen.“
„Ich sagte doch, ich bin störrisch.“ Dolores lachte kurz auf und es entstand eine Stille zwischen den beiden Frauen.
Nach einer Weile, in der die beiden ihren eigenen Gedanken nachhingen, stand Evi auf. „Was hast du denn jetzt vor Lori? Du wirst doch bestimmt ein bisschen bleiben, oder nicht? Eine Frau in deinem Alter sollte sich echt nicht übernehmen.“ Die Taucherin streckte die Zunge heraus und bekam dafür prompt einen schmerzhaften Klaps auf die Schulter. „Pass auf du junges Früchtchen, in mir steckt immer noch genug Kraft, für die man mich respektieren sollte.“ Dann stand Dolores auf und brauchte damit doch etwas länger. „Aber ein bisschen Rast könnte trotzdem nicht schaden. Wie ist das denn hier, wen muss man bestechen, um ein Quartier zu finden?“
Evi lachte und ließ die ältere Frau bei sich einhaken. „Du kannst erst mal bei uns bleiben. Garret, oder wie er heißt, von mir aus auch.“
„Kann ich mir bei dir denn dafür irgendwie erkenntlich zeigen?“ Die Taucherin schüttelte den Kopf, hielt dann aber inne. Kurz musterte sie Dolores. Es war viel Zeit vergangen, aber sie schien nicht viel von ihrem alten Ich verloren zu haben. Es war dieselbe Frau, die damals auf dem Schiff ihres Vater Zuflucht mit ein paar Mädchen gesucht hatte. Eine Frau, die mit Köpfchen vorging und so ihre Liebsten beschützte. Eine, die trotz aller Widrigkeiten die Fassung behielt und selbst in den härtesten Zeiten immer noch auf ihr Auftreten achtete. Ja, ohne Zweifel. Eine Dame.
„Also eine Sache hätte ich, wo ich echt deine Hilfe gebrauchen könnte…“
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„Dolores hat mir also dieses Kleid gemacht. Und die Tatsache, dass ich sie mehr als fünfzehn Jahre nicht gesehen und nicht von ihr gehört hatte, es ihr aber immer noch gut geht, gibt mir weiter Hoffnung. Ich vermisse die anderen, aber nichts spricht dagegen, sie wieder zu sehen, nicht wahr?“ Evi starrte gedankenverloren auf das Amulett, das in der Sonne glitzerte. „Und wenn es so weit ist, dann werde ich dich auch wieder sehen… und du wirst mit den Augen rollen und dich beschweren, dass dich mein dauerndes Gelaber hier immer in deiner trauten Zweisamkeit mit Derreck gestört hat… oder bei einer tiefgehenden Diskussion mit Will. Aber vielleicht mache ich es mit der Kleidersache ja wieder gut und unterhalte euch da oben gerade köstlich.“
Evi lachte und blinzelte sich ein kleines Tränchen aus dem Augenwinkel. Du wirst sehen. Schon bald werden wir hierauf zurückblicken und uns nicht mehr einkriegen vor Lachen, weil ich für dich echt ein Kleid anziehen wollte.
Von hinten waren nun leise, behutsame Schritte zu hören und Snowball spitzte die Ohren. Dann sprang das Kätzchen auf und begrüßte den Neuankömmling mit erhobenem Schweif.
„Es ist bald so weit. Störe ich?“, fragte Sheng, der sich nun auch an Eryns und Derrecks Grab stellte. „Überhaupt nicht.“, antwortete Evi kopfschüttelnd und stand auf. Auf ihrem Hintern hatte sich ein leichter Grünschimmer gebildet – das Kleid war offenbar nicht dafür gemacht, im Gras zu sitzen.
„Du siehst…“ „…lächerlich aus, ja, ich weiß.“ Sheng lachte. „Nicht ganz, was ich sagen wollte.“ Er legte der Taucherin den Arm um die Schulter und küsste sie auf die Stirn.
„Ich habe Dolores jetzt übrigens überzeugt. Sie wird bleiben.“ Evi hob anerkennend die Augenbrauen. „Ich bin beeindruckt. Diese Frau ist so stur… aber früher oder später kann eben niemand mehr deinen Worten widerstehen. Vielleicht werdet ihr ja wirklich noch Freunde?“ Beinahe prustete sie los und auch Sheng musste grinsen. „Darauf würde ich nicht wetten.“
Die beiden schlenderten nun langsam Hand-in-Hand zurück, nicht ohne ihre Blicke noch einmal über all die Gräber schweifen zu lassen.
„Hast du wieder eine Liste gemacht?“ Sheng schüttelte den Kopf. „Ich habe schon letztes Mal bemerkt: Das ist etwas, wo ich wirklich keine Notizen brauche. Ihre Namen haben sich für immer und ewig eingebrannt und ich werde keinen einzigen von ihnen jemals vergessen.“ Evi packte Shengs Hand etwas fester und nickte.
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„…werden nun traditionell die Namen all der Helden ausgerufen, die an diesem schicksalhaften Tag vor zwei Jahren zur Rettung der Menschheit beigetragen haben.
Vincent Allomary, Leocadia Arellano-Felix, Mary Black, Henry Daugherty,…
...Hugh Jackman, Jegor, Frank Moores, Sylvia Moores,...
…Romero Sabal, Lisa-Marie Schiller, Haile Sheng, Ichiro Sh…”
Wir werden keinen einzigen von ihnen jemals vergessen.