Sheng und Evi hatten sich nach dem Abschied von Ranger und Enigma ohne weitere Worte von der Truppe, die alles tat, um das Forschungszentrum sicher zu halten, gelöst. Kurz starrten sie schweigend in das unheilvolle Dunkel, das der Eingang der Tiefgarage preisgab und wie ein nasses, stinkendes Maul nur danach zu gieren schien, dass es jemanden verschlucken konnte.
Sheng seufzte und trat einen Schritt nach vorne, aber Evi legte ihm die Hand auf die Brust. "Warte." Sie kramte kurz in ihren Taschen und zog schließlich ein silbriges Etwas hervor, dass zwischen ihren Fingern glänzte. "Ein Glücksbringer.", erklärte die Taucherin schlicht, als sie die Kette sanft um Shengs Hals legte. "Und nur eine Leihgabe." Sie zwinkerte. "Es gehört Eryn und wir müssen es ihr zurückgeben, wenn das hier vorbei ist. Sie hat mir die Kette gegeben, weil sie daran glaubt, dass wir es schaffen - mehr als dass sie an sich selbst glaubt."
Sheng betrachtete den Anhänger nachdenklich.
"Aber ich glaube an sie und daran, dass wir es ihr zurückgeben können. Das machen beste Freunde einfach so. Egal ob sie noch so weit entfernt sind, oder infiziert, oder... sie sich solche Sorgen machen, dass sie wütend werden." Sie hatte nicht genau mitbekommen, was zwischen Wingman und Sheng vorgefallen war, doch sie konnte sich ihren Teil denken. Der Bürgermeister wirkte seitdem teilweise in sich gekehrt, auch wenn er sein Bestes tat, um sich hoffnungsvoll zu geben.
"Also, komm ja nicht auf die Idee, damit draufzugehen." Evi lachte und in Shengs Blick kehrte kurz die Wärme zurück, mit der er ihr Herz immer noch zum Klopfen brachte. Dann wich sie aber einer ernsten Entschlossenheit, mit der er die Taucherin nun auch ansteckte. Die beiden nickten sich zu und traten zum Eingang der Tiefgarage.
Der breite und inzwischen leicht überwucherte Weg, der zum Eingang der Tiefgarage führte, fiel schräg ab, - es gab keine Treppen oder ähnliches und Evi erinnerte sich ganz dunkel, dass dies eine Zufahrt gewesen sein musste, nichts für Fußgänger.
Vorsichtig trat sie an die Stelle, wo das Wasser begann, gegen ihre Schuhe zu tänzeln. Sheng war in die Hocke gegangen, um einen Blick in das Gebäude zu werfen, aber ab einem bestimmten Punkt war nur bedrückende Finsternis zu sehen, und es war nicht mehr zu erkennen als dass ein paar dicke Pfeiler bis an die Decke ragten.
"Wir müssen uns nur rechts halten, dann können wir den Ausgang gar nicht verfehlen." Er zeigte in die Richtung, in der laut Ellens Karte eine Tür sein musste. "Bleib in meiner Nähe.", sagte Evi und watete ins kühle Nass. Es dauerte nicht lange, bis sie beide bis an die Schultern in grauem, dreckigen Wasser standen und zu schwimmen beginnen mussten. Die Garage war fast vollständig überschwemmt, so dass ihre Köpfe beinahe die Decke streiften. Die vergessenen Autos und anderen Gefährte, die ihr Dasein bis in alle Ewigkeiten am Boden fristen mussten, konnten sie hingegen kaum unter sich erkennen, weil der Abstand recht groß war. An einigen Stellen sahen sie ausgegilbte Schilder an schweren Eisenketten hängen und halb ins Wasser ragen. Sie waren teilweise mit grünen Algen bedeckt und so groß, dass sie durchtauchen mussten, wenn sie später nicht die Orientierung verlieren wollten.
Als Evi das erste Schild hinter sich gelassen hatte und wieder an die Oberfläche kam, erschlug sie die drohende Dunkelheit beinahe. Nun war kaum mehr etwas zu erkennen, aber schemenhaft sah sie Sheng neben sich auftauchen. "Alles okay?", fragte sie in die Schatten hinein. "Ja.", kam die belustigte Antwort, weil sie nicht einmal ein paar Sekunden unter Wasser verbracht hatten. Aber etwas anderes erweckte Evis Aufmerksamkeit. Ein seltsames Rauschen hatte die Stimme ihres Begleiters untermalt. "Hörst du das auch?" Stille. Da war nichts außer den schwappenden Wellen, die sie selbst durch ihre Bewegungen heraufbeschworen. Sheng schüttelte - vermutlich - den Kopf. "Ich höre nichts." Noch einmal lauschten sie, doch da war nichts Ungewöhnliches. "Okay, dann weiter."
Nachdem Evi unter dem nächsten Schild durchgetaucht war, umfing sie wirklich nichts als Finsternis. Hinter ihr klimperte etwas. "Bist du an den Ketten angekommen?" "Ja, kann sein." Shengs Stimme war näher, als sie ihn vermutet hätte. Verdammte Dunkelheit. Sie fühlte mit ihrer Hand die rauhe Wand, an der sie sich immer wieder orientierten, um ihr Ziel zu finden. "Es ist bestimmt nicht mehr weit.", sagte die Taucherin beschwichtigend, als sie meinte, ihren Begleiter angestrengt atmen zu hören. Auch wenn es nun wieder weiter weg wirkte, als noch vorhin.
Als sie unter dem nächsten Schild hindurchtauchte, spürte sie, wie ihre Fingerspitzen am Ende etwas berührten. Vor ihr war nun eine weitere Wand und freudig drehte sie sich in die Richtung, wo sie Sheng vermutete. "Wir sind da!", wisperte sie aufgeregt. "Da unten muss die Tür sein. Komm, bleib dicht bei mir." "Okay." Sie hörte platschen, als der Bürgermeister näher an sie herankam.
Dann holte Evi tief Luft und ihr war als hörte sie einen dumpfen Laut, gerade als sie ihren Kopf unter das Wasser zog. Aber sie spürte Shengs Körper neben sich, der sich mit ihr gemeinsam an der Wand entlang tastete, während sie immer weiter nach unten glitten. Da - eine Vertiefung. Hier musste die Tür sein, die sich offenbar nach innen öffnen ließ. Es dauerte nicht lange bis die Taucherin eine Klinke fand, was sie ihrem Begleiter mit einem leichten Ziehen an seinem Hemd deutete. Hm, der Stoff fühlte sich merkwürdig schwer an.
Aber gleich darauf glitt der Körper neben ihr wieder nach oben - wahrscheinlich musste Sheng Luft holen - und sie machte sich vorerst ohne weitere Gedanken alleine an der Tür zu schaffen. Diese war nicht verschlossen, aber ein Widerstand verhinderte, dass sie sich leicht öffnen ließ. Vermutlich hatte sich im Laufe der Jahre durch die Ritzen auch dahinter Wasser gebildet. Aber Evi wusste, wenn dort der Wasserstand nur etwas geringer war, dann brauchte sie nur einen Spalt. Die Tür würde durch den Druck weiter von selbst aufschwingen. Und tatsächlich, sie brauchte nur ein paar beherzte Tritte, bevor der Widerstand nachgab und sie leicht in Richtung der Tür gezogen wurde, die hinter sich nun verschwommen wirkendes, flackerndes Licht preisgab. Das hieß, dass Ranger und Enigma Erfolg gehabt haben mussten. Die Taucherin jubelte innerlich und griff schnell nach Shengs Hand, die sie irgendwo über sich vermutete. Als sie spürte, wie sich Finger um ihre legten, überkam sie ein leichter Schauer. Das fühlte sich so seltsam an.
Als Evi einen Blick auf den Arm warf, der sich ihr entgegen gestreckt hatte, erkannte sie durch die vage Lichquelle, dass er völlig in schwarz gehüllt war. Die Hand, in einen dunklen Handschuh gehüllt, zog an ihr und riss sie mit einem Ruck wieder nach oben.
Die Taucherin schnappte kurz nach Luft, als sie an die Oberfläche gezerrt wurde und sich augenblicklich ein starker Arm um ihren Hals legte. Sie blinzelte. Gegenüber von ihr hielt sich ein Kultist an dem letzten Schild, das sie durchtaucht hatten, fest und hatte Sheng auf dieselbe Art gepackt, nur scheinbar noch energischer. "Shn!" Evi wollte zappeln und treten, aber ihr wurde bei jeder kleinen Bewegung mehr die Luft abgeschnürt, so dass ihr nicht nur ihre eigene, sondern vor allem auch Shengs Flucht immer unwahrscheinlicher erschien. Diese in schwarz gehüllte Gestalt, die ihn in seiner Gewalt hatte, wirkte ruhig und völlig unangestrengt - man konnte durch das dämmrige Licht bloß ein schattenhaftes Grinsen auf ihrem Gesicht erkennen.
Dagegen atmete ihr eigener Gegner verhältnismäßig laut, denn er hatte nichts zum Festhalten außer ihr und seine Beine bewegten sich stetig, um in der schweren Robe nicht unterzugehen.
"Dummes Mädchen. Hast nicht einmal bemerkt, wie wir leise und heimlich zu euch gestoßen sind.", wurde in Evis Ohr gezischt. Mein Gott, das Rauschen, das Klirren,... diese beiden hatten sich wahrscheinlich jede ihrer Taucheinlagen zu Nutze gemacht, um sich näher an sie heranzuwagen. "Wir waren nicht sicher, ob sich von euch unfähigen Ratten überhaupt jemand hierher wagt, aber natürlich hatte die Herrin recht damit, uns vorsichtshalber zu schicken." "Jaa~", drang es von dem anderen Kultisten herüber, und Evi standen fast die Haare zu Berge. So eine gruselige Stimme hatte sie selten gehört - vor allem war sie so voll gieriger Vorfreude.
"Wir dachten, wir verpassen den ganzen Spaß, nicht wahr?" "Jaa~"
"Aber jetzt können wir ja euch töten."
Augenblicklich wurde Evi unter Wasser gedrückt, ohne dass sich der Arm um ihren Hals auch nur ein bisschen lösen zu schien. Unzählige Luftblasen stahlen sich aus ihrem Mund, weil sie schreien wollte. Aber bevor sie sich darüber ärgern konnte, weil sie so nicht lange durchhalten würde, spürte sie plötzlich wieder Luft an ihren Atemwegen.
"Was meinst du damit?", hörte sie den Kultisten rufen, der sie nun wieder an der Oberfläche hielt und seinen Griff spürbar gelockert hatte.
"Sie ist tot." Um die Aussage zu unterstreichen hielt der andere etwas in die Höhe, das aussah wie ein Funkgerät. Der Typ schien Sheng völlig vergessen zu haben, der scheinbar regungslos vor ihm hertrieb. Aber Evi konnte im flackernden Licht gerade noch erkennen, dass seine Augen geöffnet waren und sie ansahen. Nicht wehmütig oder resignierend, sondern fast kämpferisch. Beinahe unmerklich nickte sie ihm zu.
"Die Großmeisterin kann nicht tot sein...", schnarrte die fassungslose Stimme neben der Taucherin und sie merkte, dass auch sie kaum noch beachtet wurde.
Und dann hallte ein lautes "Jetzt!" durch die Tiefgarage, und Evi sah noch wie Sheng sich kraftvoll auf seinen Gegner stürzte, bevor sie den Arm ihres eigenen Peinigers von sich riss und sich blitzschnell nach ihm umdrehte. Ihr Ellenbogen landete in seinem Gesicht, und obwohl ihm das Blut augenblicklich aus der Nase schoss, warf er sich mit einem brüllendem Schrei auf sie. Eine Weile lang rangelten sie unter Wasser und die Taucherin musste innerlich grinsen - wenn es nach ihr ging, konnte sie dieses Spielchen ruhig auch ein bisschen länger mitmachen. Der Kerl konnte nicht gewinnen - nicht hier, wo sie in ihrem Element war. Seine Bewegungen waren noch träger als ihre, obwohl das kühle Nass auch sie bremste. Sie konnte ihn nicht einfach schlagen oder treten, zumindest nicht besonders effektiv. Also versuchte sie, ihren Gegner in die Nähe der Wand zu manövrieren, was er erst bemerkte, als er am Rücken plötzlich diesen Widerstand spürte. Und dann hielt sie ihn fest, drückte ihren eigenen Körper so heftig gegen seinen, um ihm nur ja keine Bewegung zu erlauben. Es musste seltsam aussehen, wie sie auf ihm hing, aber es konnte ohnehin niemand sehen.
Langsam glitten beide nach unten, weil sich nun bis auf das verzweifelte Kopfschütteln des Kultisten nichts mehr bewegte. Ihm ging die Luft aus, und als sie schließlich am Boden ankamen, wo das Licht aus der Tür einen unheimlichen Schein auf sie warf, sah Evi dem Kultisten in die weit aufgerissenen Augen und konnte kaum fassen, was sie hier für einen Schwächling vor sich hatte. Denn ein paar Luftbläschen später war er tot und das musste bedeuten, dass Sheng tatsächlich den härteren Kampf erwischt hatte.
~
Sheng fühlte sich beflügelt - Georgina war tot und die Chancen, dass seine Tochter heil davongekommen war, stiegen ins Unendliche. Angestachelt durch die Hoffnung war er so schnell auf seinen Gegner zugestürzt, dass dieser kaum Zeit hatte zu reagieren. Sein Kopf wurde gepackt und gegen die schwere Kette geschlagen, an der er sich gerade noch festgehalten hatte. Der Bürgermeister wusste, dass er nicht innehalten durfte, denn dieses Manöver war ihm einzig und allein durch den Überraschungsmoment gelungen. Er wollte den Kultisten gar nicht erst wieder zu Sinnen kommen lassen und dasselbe einfach noch einmal versuchen, aber eine blitzschnelle Handbewegung hielt ihn davon ab. Er konnte nun das Gesicht des Feindes, der seinen zweiten Angriff sofort aufgehalten hatte, sehen, und ein dünner, roter Faden Blur rann von seiner Schläfe. Aber er grinste und seine Augen schienen vor Freude zu lodern.
Blitzschnell schaffte es der Kerl, Shengs ganzen Arm zu packen und hinter den Rücken zu drehen. Nun war er wieder in seiner Gewalt und der Schmerz, der an der Schulter und am Ellenbogen am meisten glühte, war kaum zu ertragen.
Aus tränenden Augen erkannte er, dass Evi und der andere Kultist unter Wasser verschwunden waren. "Erst wirst du sterben....", sagte die gruselige Gestalt und kicherte. "...und dann sie."
"Nein.", presste der Bürgermeister knurrend hervor und ließ seinen Kopf nach hinten schnellen. Es gab ein dumpfes Geräusch und Shengs Hinterkopf tat augenblicklich höllisch weh, aber der Griff um seinen Arm lockerte sich merklich. Obwohl dies der beste Moment gewesen wäre, um zu fliehen, kam es ihm nicht auch nur für einen Moment in den Sinn, und so stürzte er sich erneut auf den Kultisten, der sich abermals schnell von seinem Schmerz erholt hätte, wenn er nicht damit beschäftigt gewesen wäre, einen langen, schmucklosen und dünnen Dolch aus seinem Umhang zu ziehen.
Sheng versuchte verzweifelt und mit aller Macht irgendetwas zu tun, um seinen Gegner endgültig zu übermannen, oder wenigstens die Waffe unschädlich zu machen. Es war ein Tanz aus Angriff und Ausweichen, die beiden Kontrahenden waren mal unter Wasser und dann wieder nicht, wurden vom Schein aus der Tür in grünliches Scheinwerferlicht getaucht und drifteten dann wieder in die Dunkelheit - der Asiate wusste überhaupt nicht mehr wo oben und unten war. Und er spürte überall, wie ihn langsam die Kraft verließ und einfach alles weh tat. Sein Arm, sein Kopf, sein Rücken... nicht zu vergessen die Brust, weil er inzwischen heftig atmen musste und auch immer wieder etwas Wasser geschluckt hatte.
Und dann durchfuhr ihn plötzlich ein stechender Schmerz, weit größer als all die kleinen Blessuren zuvor. Erst war Sheng nicht klar was passiert war, er fühlte nur das Brennen in seiner Schulter und dass er nicht von der Stelle kam. Er war unter Wasser gedrückt worden, an einen Pickup, der wie die anderen Autos nun in stiller Vergessenheit vom Rost aufgefressen wurde. Aber er konnte sich nicht aufrappeln, weil jede kleinste Bewegung in einem übermannendem Schmerz seiner rechten Seite resultierte. Der Kultist hatte aufgehört zu kämpfen und lächelte ihn einfach nur zufrieden an. Ihre Gesichter waren dicht beieinander.
Irgendetwas hatte Sheng an der Schulter aufgespießt, das konnte er nun fühlen. Vielleicht ein scharfer, kaputter Teil dieses Gefährts, wahrscheinlicher aber der Dolch, den der Gegner durch seinen Körper in das Blech gerammt hatte - auf jeden Fall etwas, das ihn nicht mehr freilassen wollte. Er fühlte, dass er zu wenig Kraft übrig hatte, um irgendetwas zu tun. Die Klinge aus seinem Körper zu ziehen, und dann mit dieser Qual weiter zu kämpfen und zu schwimmen kam ihm wie ein unüberwindbarer Kraftakt vor. Und sein Feind spürte es auch. Mit einem breiten Grinsen legte er seine Hand auf den Kopf des Bürgermeisters und tätschelte ihn mit einem süffisanten Grinsen. Er verspottete ihn.
Und plötzlich sah Sheng wieder Georgina vor sich, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht hatte - mit allen. Jeder einzelne Bürger von Shengs Hope hatte dafür bezahlt. Solche Menschen durfte es in der neuen Welt nicht geben. Dieser Mann hier war nicht Georgina selbst, aber er war genau vom selben Schlag. Und Haile, seine tapfere Tochter, hatte sich dem Kampf mit ihrer Schwester gestellt und es offenbar geschafft... jetzt musste er es schaffen.
Als die siegessichere Gestalt sich vom Boden abstoßen wollte, um zur Wasseroberfläche zu gelangen und Sheng zurückzulassen, griff dieser entschlossen nach dem schwarz behandschuhten Handgelenk. Er legte alles, was er noch hatte, in diese Bewegung. Seine gesamten Hoffnungen, Träume, Erinnerungen und Wünsche lagen in diesem Griff - der Kultist zappelte, schlug und trat nach ihm, aber seine Hand rührte sich keinen Millimeter. Was immer geschah, er durfte nicht loslassen. Wenn er schon hier sterben würde, dann nicht alleine.
"Ich komme aus dieser Sache nur mit dir gemeinsam wieder raus... oder gar nicht." Es tut mir leid.
~
Nachdem Evi ihren Gegner besiegt hatte, stieß sie sich vom Boden ab, um schneller an die Oberfläche zu kommen - am besten in Richtung des Schildes, wo Sheng und der andere Kultist kämpften. Hoffentlich war alles okay, vielleicht war schon alles vorbei und gut ausgegangen, und wenn nicht, dann konnte sie jetzt wenigstens hin und-
Das was sie sah, als ihr Kopf aus dem Wasser tauchte, unterbrach ihre eigenen Überlegungen abrupt. Da war nichts. Als wäre sie die einzige Menschenseele in dieser nassen, dunklen Halle.
"Sheng?", rief die Taucherin und die Stille, in der niemand antwortete, raubte ihr beinahe den Atem. Unter Wasser. Er musste irgendwo unter Wasser sein - wenn sie ihn nur schnell genug finden würde....
Ohne einen weiteren Gedanken tauchte sie an der Stelle, wo der Feind ihn vorhin festgehalten hatte und sah sofort, dass es dort nichts zu finden gab. Nicht einmal abgestellte Gefährte aus längst vergangenen Tagen waren in diesem Abschnitt - hier war einfach nur grauer, moosiger Boden, auf dem die weiß aufgemalten Streifen durch das flackernde Licht aus der Tür grünlich schimmerten. Panisch drehte Evi sich im Kreis, ließ den Kopf immer energischer in alle Richtungen schweifen. Die Tiefgarage erschien ihr nun plötzlich riesig, und die schiere Größe mit den Pfeilern, den Autos und sonstigen Relikten aus der alten Welt führte dazu, dass es trotz des hilfreichen Lichtstreifens unendlich viele Bereiche gab, die die Dunkelheit völlig verschluckt hatte.
Hektisch tauchte Evi in irgendeine Richtung, die ihr am naheliegensten vorkam, aber je weiter sie von der Tür wegkam, desto weniger konnte sie sehen.
Verzweiflung brach über sie herein und alles in ihr wollte schreien. Sie musste auftauchen und brüllte noch einmal, einfach weil sie nicht mehr wusste, was sie sonst tun sollte. "SHENG!!" Sie konnte ihn nicht finden, sie würde ihn auch nicht finden - nicht schnell genug. Tränen rannen ihr nun über die Wangen und ihr kam vor, ihr lautes Schluchzen würde in der ganzen Garage widerhallen, weshalb die Einsamkeit und Verzweiflung noch heftiger über sie hereinbrachen.
"Sheng...."
"Wenn ich nur einen Wunsch frei habe, dann wünsche ich mir.... dass du lebst."
Etwas weiter links von sich fiel der Taucherin plötzlich etwas Seltsames im Wasser auf. Als würde etwas... blinken. Oder nein, funkeln. Es war nur ganz klein, aber hin und wieder reflektierte etwas das flackernde Licht. Vielleicht nur eine Scherbe, oder ein Glassplitter. Vielleicht aber auch...
Sie tauchte unter und schoss auf das Glitzern zu.
Vielleicht aber auch... Eryns Amulett.
In wenigen Sekunden sah Evi, wie aus dem Funkeln wirklich ein Anhänger wurde, der sanft auf einem Stück Stoff verharrte, das immer mehr Form annahm und schließlich zu einem Körper wurde. Seinem Körper.
Sie nahm gar nicht richtig wahr, dass darüber noch ein anderer, schwarz gewandeter Mann hing - tot und trotzdem noch im Griff einer Hand, die das einzige zu sein schien, das an dieser Szenerie noch Leben in sich trug.
Sie sah nur Sheng, dessen Kopf gerade an seine Brust sank und das Amulett, das ihr direkt darunter nun wie ein Strahl der Hoffnung entgegen zu leuchten schien.
Unwirsch riss Evi den Dolch aus seiner Schulter und ohne auch nur einen weiteren Blick zurück packte sie den Mann, den sie liebte. Ungeahnte Kräfte setzten sich in ihr frei, als sie sich an dem Pickup abstieß, und es kam ihr fast vor als würde sie fliegen, so schnell sah sie den rettenden Ausgang auf sie beide zukommen. Noch nie in ihrem Leben war sie so schnell geschwommen.
Sie schnellte durch die Tür, konnte Widerstand spüren und hatte plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen. Eine Treppe führte von der Tiefgarage, vorbei an überschwemmten Kellerräumen, eine Etage weiter nach oben in das Kontrollzentrum, und beinahe stürzte sie, weil sie Sheng so schnell hinaufschleppen wollte.
Sobald ihre Köpfe wieder an der Luft waren, begann dieser wild zu husten und besprenkelte die Wände mit Spritzern von Wasser, das in seine Kehle gelangt war. Evi half ihm, sich zu setzen, während er weiter keuchte und wirkte, als würde er sich gleich übergeben müssen.
Nach einer Weile hatte er sich beruhigt und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.
"Bist du... ich meine geht es dir...also..." Sheng atmete einmal tief ein, dann lächelte er schwach und antwortete mit immer noch geschlossenen Augen: "Ja." Es war kaum mehr als ein Hauchen, aber Evi wusste, dass es wahr war. Mehr noch - sie wusste, dass es damit geschafft war. Jetzt würde sie nichts mehr daran hindern, diese Türen zu öffnen und dann würde sie nichts mehr daran hindern...
Überschwenglich fiel die Taucherin Sheng um den Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, nur um ihm anschließend wieder fest in die Arme zu schließen. Der Bürgermeister setzte zu einem zufriedenen Grinsen an, verzog stattdessen aber das Gesicht. "Au, hey, nicht so fest, bitte." Er öffnete die Augen, und obwohl er unendlich müde aussah, lag ein stolzer Glanz darin. "Du hast mich wieder gerettet." Evi, die sich nun damit begnügte, über seine Wange zu streichen, weil diese ihm wenigstens nicht weh zu tun schien, schüttelte den Kopf. "Ich hätte das alleine nicht geschafft. Eryn hat mich zu dir geführt." Sie deutete auf die Kette, und auf Shengs fragenden Blick hin lächelte sie sanft. "Später." Sie würden noch alle Zeit der Welt zusammen haben.
"Denkst du, du kannst aufstehen?" Evi stand selbst auf und streckt dem Bürgermeister eine Hand entgegen. "Wenn es zu anstrengend ist, dann macht das nichts, Hauptsache du hältst durch. Aber es wäre schön, wenn wir die Türsteuerung gemeinsam betätigen würden. Du weißt schon, zusammen die Tore für die Zukunft öffnen..."
Sie grinste den Mann vor sich an, aber dahinter lag ein Blick voller Liebe und der innigen Gewissheit, dass sie ihn nun immer an seiner Seite haben würde. Nichts konnte sie mehr aufhalten. Das war der erste Schritt ihres restlichen Lebens.
In Shengs Augen konnte sie sehen, wie sich ihre Gedanken in ihnen spiegelten, denn nun kehrte abermals ein noch größerer Funken als zuvor in sie zurück. Er nickte, als wäre er niemals so bereit gewesen wie in diesem Moment und griff nach Evis Hand.
Heute heilen wir die Wunden dieser Welt... für den Rest haben wir noch ein ganzes Leben.
Und so konnten sich die Tore für die Zukunft öffnen.