Jede Faser, jede Zelle in Léos Körper schien in Schockstarre zu verfallen, als Seeker ihr Anliegen vorgetragen und sie, wie auch Voodoo, ansahen.
Was würde sie darum geben, einen riesigen Anschiss kassiert zu haben.
Weil Jackal nicht mehr da war.
Weil sie Pray irgendwie auf den Schlips getreten war.
Von ihr aus auch einfach so, ohne jeden Grund.
Darauf wäre sie klar gekommen. Das war sie gewohnt.
Worauf sie nicht klar kommen konnte, war, vor die Wahl gestellt zu werden, ihre bisherige Schiene weiterzufahren oder den zu Hause gebliebenen Rest der Vultures zu übernehmen.
Dass ihre Clanschwester nicht mehr von ihrem eigenen Entschluss abzubringen, hatte sich Léo schon im Zelt eingestehen müssen. Es war wie ein Knoten in ihrer Brust, der sich fester und fester zog, weil sie wusste, dass sie absolut nichts mehr dagegen tun konnte.
Zugegebenermaßen hatte sie der Gedanke schon gereizt, den Clan zu übernehmen oder zu führen, aber bei der Idee war es ja immer der komplette Clan gewesen, stark, stolz, uneinnehmbar. Hier nun sollte sie...ja,...im Prinzip die Anhängsel, das Sheng’s Hope der Vulture anführen.
Kinder, Verletzte, Frauen und Männer ohne Kampferfahrung...
Bereits wie Ballast zurückgelassen, warten sie auf Nachricht oder die Gewissheit, ihren Leben gemeinsam ein Ende zu setzen.
Und sie, Léo, sollte ihre Lösung, gar Rettung sein? Sie, die sie sich selbst noch nicht sicher war, ob sie sich überhaupt zurechtfinden könnte in dem, was sie gerade im Begriff war zu schaffen?
Die sich dadurch anbahnende Verantwortung schien auf krasseste Weise mit ihren Prinzipien zu kollidieren.
Wenn sich Hju in seinem Anführerposten auch nur halb so beschissen fühlte, wie sie sich in diesem Moment, müsste sie so einige der Sachen, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, zurücknehmen.
Wollte sie, dass dieses Gefühl von jetzt an ihr treuer Begleiter wurde? Die paar Stunden, in denen sie sich für Jackal verantwortlich gefühlt hatte, waren die Hölle gewesen, vor allem, da er ihr deswegen danach weiterhin auf die Eierstöcke gegangen war.
Sie betrachtete Seeker und Voodoo, der selbst noch immer geschockt schien, eingehend. Er würde ihr den Weg zeigen, alle Wege der Vulture zu begreifen. Im Prinzip wusste sie so wenig von ihnen, auch wenn sie glaubte, den Geist des Clans begriffen zu haben.
Doch auf der anderen Seite hätte sie dann auch nach morgen ein wirkliches Ziel vor Augen. Eine Möglichkeit, sich zurechtzufinden. Und wenn dann auch noch Guapo an ihrer Seite stünde...
Sollte sie die neue Welt zum Anlass nehmen, auch etwas komplett Neues zu wagen? Den Schritt in die Zukunft zu gehen?
Oder sich an ihre bestehende Vorstellung halten, die sie durch dieses Leben gebracht hatte; der Vergangenheit treu bleibend?
Nachmittags auf der Villenterrasse. Ein vergleichsweiser milder Augusttag in Tijuana., Insekten und ein merkwürdiges Stöhnen erfüllten die warme Luft mit ihrem Schwirren; während Léo mit ihrer Abuela mächtig einen durchzog. Die faltige Frau mochte vielleicht schon an die 90 sein, aber durchs Familiengeschäft war der Graskonsum für sie so natürlich wie das Tequila-trinken. Die dazu notwendige Pflanze kultivierte sie schon vor dem großen Zehren im Garten. Zufrieden beobachtete sie aus ihren weisen aber noch immer wachen tiefschwarzen Augen, wie ihre Maultiere das saftige Grün der Umgebung abgrasten. „Es gibt wenig bessere Unternehmen heutzutage, nieta (Enkelin).“ "Oh, Abuela, nicht schon wieder... ich sage Dir jeden Tag, dass ich keinen Bock habe, verkackte Maultiere zu züchten...“ „Und doch willst Du eines meiner verkackten Maultiere, um abzuhauen, sobald ich diese Welt verlassen habe.“ Abuela nahm einen kräftigen Zug und bließ den Rauch in kleinen Ringen aus. "Bitte, wie oft muss ich Dir denn noch erklären, da-„ „Nein, nein, es ist schon gut, dass Du Dich um la Familia kümmerst und für mich ordentlich bestatten wirst. Wenn Du das mal nur auch für Fransisco getan hättest...“ Léo grunzte etwas Unverständliches. Geistesabwesend tätschelte die Alte die Quelle des Stöhnens; den abgehackten Kopf ihres Lieblingssohnes, den ihre Lieblingsenkelin bei ihrer heißersehnten Heimkehr im Gepäck hatte. Jeden Tag hatte die Greisin dafür gebetet, dass ihr Javier und seine kleine Léo wiederkommen würden und nach 19 langen Jahren hatte der Padre sie erhört, wenn auch nicht vollständig. Die nächsten Monate widmete sie voll und ganz damit, den Stolz der Familie Arellano-Felix auf eine gute Bahn zu führen- mehr oder weniger erfolgreich. „Nieta, Maultiere sind unglaublich nützlich. Sie transportieren Dich oder andere Sachen, halten den Garten knapp, düngen, geben Dir Fleisch und Milch... damit kannst Du Dir dann auch jeden Mann aussuchen..“ "ABUELA!“ „Sí claro, Du kannst nicht ewig diesem Negro hinterhertrauern. Du bist 27, ohne Irgendjemanden und bald die letzte Arellano-Felix. Ich erwarte Urenkel!“ "Weißt Du was: Klar, ich mach das wie Papa...“ „Ahh, madre mía, bloß nicht...“ Boshaft grinste die junge Latina. "Oh doch, ich suche mir nen oberscharfen Australier, der mich regelmäßig zur Weißglut treibt, aber wahnsinnig gut im Bett ist ...klingt suuuuper, oder Abuela? Dein Alptraum wiederholt sich...“ „Der Padre nimmt sowas sehr wörtlich und bald bin ich bei ihm, dann sorge ich dafür, dass Du genau so einen bekommst.“ Ein kehliges Lachen entfuhr Léo, bei dem sie schubweise den eben eingeatmeten Rauch ausstieß. „Aber wenn er im Gegensatz zu Deiner Mutter wenigstens 2 Gehirnzellen hat, bin ich schon glücklich. Hauptsache Du kommst endlich mal in trockene Tücher.“ "Bin ich doch schon längst, Abuela. Ich komm wunderbar allein zurecht, ohne Maultiere, ohne Mann oder Kinder und das darf sehr gerne so bleiben. Und ich geh auf jeden Fall weg, ich muss das aus der Vergangenheit endlich regeln.“ Geistesabwesend nickte ihre Großmutter, starrte auf keinen bestimmten Punkt. Nach einigen Minuten des gemeinsamen Schweigens sprang die Faltige auf einmal auf und verschwand im Haus, nur um nach einigem Fluchen mit einem Teleskop wiederzukommen, dass sie Léo in die Hand drückte. Mit erhobener Augenbraue sah diese ihre Abuela an, die nur an den Horizont deutete. Schulterzuckend setzte sie das Teleskop ans Auge und blickte in die Ferne. „Siehst Du den Berg mit den Mulas da drüben? Alles erscheint so nah- das ist die Zukunft.“ Die Alte nahm das Teleskop und drehte es um, so dass nun die große Linse an Léos Auge lag. Sacht drehte sie das Gerät, sodass es auf den verfaulenden Kopf gerichtet war, durch die ungewöhnliche Betrachtungsart winzig. „Und jetzt.... ist alles so weit weg- das ist die Vergangenheit. Du musst Dich entscheiden, wie weit Dein Weg sein soll, doch es lohnt sich fast nie, den langen Weg zurück in die Vergangenheit zu nehmen. Vor allem, wenn eine so tolle Zukunft direkt vor Dir liegt...“
Merkwürdig, dass ihr das gerade jetzt einfiel. Damals hatte sie Nichts auf diese Worte gegeben und sich auf den Weg zur Ostküste gemacht. Für ihre Vergangenheit.
Und war nun hier, nach einem schier endlosen, langen, mühsamen Weg.
Doch jetzt stand Léo vor der einer der schwersten Entscheidungen ihres Lebens. Die Frage, ob sie sich für die Menschheit opfern würde, war dagegen ein Klacks für sie gewesen.
Es gab kein Vertun, sich das einzugestehen: Sie hatte Angst. Angst zu versagen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, Seeker zu enttäuschen und ihren Clan ins Verdeben zu reißen.
Da war dieser Widerstand, so viel in wahrscheinlich nicht fürs Überleben nützliche Personen zu investieren, die sie selbst und andere runterziehen könnten.
Der eigentlich springende Punkt war: Im Gegensatz zu den Leuten, die die Anderen im Dome gerettet hatten, gingen ihr dieses Schicksal irgendwie nahe. Da war diese natürliche Verbundenheit mit den dem Clan, die Léo schon damals empfunden hatte und jetzt einfach nicht abschütteln konnte. Da war dieses unermesslich tiefe Band mit ihrer Schwester Seeker, für die die Vulture eindeutig ihre Familie waren.
Und sie wollte ihre Familie, ihr Wertvollstes, das, was sie aufgebaut hatte, in die Hände und Obhut der Latina geben. So sehr vertraute sie ihr, so hoch schätzte sie sie ein.
La Familia es todo.
Ihr schlug das Herz bis an den Kehlkopf.
Ihre Augen schimmerten, als sie ihre Hände auf die Schultern Voodoos und Seekers legte und fest griff.
Tief blickte sie beiden in die Augen, ehe sie die ihrer Schwester fixierte.
Langsam atmete sie aus, um ihre Stimme ruhig zu halten, als sie entgegnete:
"Es ist das Mindeste, was ich für Dich und den Clan tun kann, nach allem, was Du für mich und meinen getan hast. Wenn ich aufrecht aus der Schlacht gehe, werde ich die neue Seeker.“
Léo schluckte. Sie fühlte, dass die vielleicht die letzte Gelegenheit war, mit dieser beeindruckenden Frau zu reden.
"Das....Das größte Geschenk und die größte Ehre, ist Dich als Schwester zu haben....“
Sie zog Seeker zu sich, und raunte leise in ihr Ohr.
"D-Du wirst mir so fehlen...“
Dann biss sie ihr sacht in den Nacken.