Nachdem Sheng und Evi die Anhöhe verließen und von den immer lauter werdenden Gesängen in das Lager der Vultures geleitet wurden, wartete Voodoo bereits grinsend und mit dampfenden Bechern des Agaven-Getränkes auf sie. Offenbar hatte der Clan alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest an ihre Heimat gebunden war, aber Evi kam nicht in den Sinn, dass diese Krieger den nächsten Tag als ihre letzte, große Schlacht ansahen und die meisten nicht damit rechneten - ja, sich sogar die Ehre erhofften - nicht zurückzukehren.
Noch bevor die beiden einen Schluck trinken konnten, wurden Sheng und Evi von Vultures bestürmt, die Voodoos Werk bestaunen wollten, aber auch mit ihrer Schwester Teeth und dem Großmeister der verbrüderten Hope'Ari feiern und tanzen wollten.
Nachdem sie eine Weile in der Menge herumgehüpft waren - das war zumindest Evis Form von Tanzen - kämpften sie sich wieder an den Rand des Geschehens, wo kühle Nachtluft der sengenden Hitze Einhalt gebot. Gemeinsam setzten sie sich an einen weniger umtriebenen Platz am Feuer und Sheng strich fast beiläufig über ihren Rücken, dessen Brennen sich längst in einen willkommenen Schmerz verwandelt hatte, der sie an Leidenschaft, Sehnsucht und Verbundenheit erinnerte.
Sie brauchte diesmal keinen Spiegel, um zu wissen, was für ein wundervolles Werk sie auf ihrer Haut trug. Sie konnte Aufregung und auch Stolz in Shengs Augen sehen, wenn er einen Blick auf die Tätowierung warf. Und die Vultures sahen ihren Rücken auf eine ähnliche Art und Weise an.
"Die Füllung wird vermutlich irgendwann verblassen...das heißt auch, dass du irgendwann wieder kommen musst. Zum Nachstechen."
Evi sah Needles Gesicht vor sich, wie er damals sichtlich stolz gegrinst hatte, weil er einen Grund für sie gefunden hatte, dass sie sich wiedersahen. Jetzt war das Werk vollendet und perfekt geworden. Aber schon damals hatte es ohnehin keine andere Motivation gebraucht, um die Vultures als einen Teil von sich zu bewahren und jetzt fühlte Evi dies noch viel stärker. "Das werde ich." Immer wieder. Aber nie mehr alleine.
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Evi erzählte Sheng, der auf ihrer Schulter lehnte, gerade die Geschichte, wie sie Pray erst den Korkenzieher um die Füße geworfen hatte, nur um ihn wenig später reuevoll von ihm zurück zu verlangen, als plötzlich ein junger Krieger mit einem quietschenden Etwas über der Schulter an ihnen vorbei stürmte. War das... nicht die Flameriderin?
"Deine Freunde sind wirklich, wirklich speziell, Kleine."
"...!" Eryn und Haile setzten sich zu ihnen, und aus irgendeinem Grund war Raoul auch dabei. Wie seltsam das alles war. Aber auf gute Art und Weise. Das ehemals verpönte Kultistenmädchen brachte alle zusammen - Schöne Siedlersfrauen oder Bürgermeister, nicht zu bändigende Plünderer und kleptomanische Waisenkinder, so viele andere... und sie alle waren willkommen und bereit für eine gemeinsame, große Schlacht am Ende.
Ob eine neue, alte Welt auch so aussehen würde? Würden die Menschen wieder mehr zueinander finden?
Evi sah sanft zu Haile und Sheng, die erst möglich machten, dass es überhaupt eine neue Welt geben würde. Mit ihnen konnte es ja eigentlich nur supergut werden, egal was auf sie zukommen mochte. Und Eryn musste das auch wissen.
Als die Taucherin die leichte Berührung ihrer Freundin fühlte, wollte sie sich mit ihr voller Zuversicht und mit geballter Fröhlichkeit verrückte Dinge ausmalen, die sie in so einer neuen Welt erleben würden. Doch der Schein des Feuers warf unheilvolle Schatten auf Eryns Gesicht und sie sah unnatürlich bleich aus.
"Danke für alles, Evi!", hatte sie gerade gesagt und dann kamen die Tränen. Wie viele Stunden waren vergangen? Hatte sich ihr Zustand wirklich so schnell verschlechtert, oder lag es an ihrer Angst, dass es jetzt so viel schlimmer wirkte? Furcht konnte alles mögliche beeinflussen.
"Das klingt wie ein Abschied.", sagte Evi leise und schlang beide Arme um Eryn, so dass sie sich an sie lehnen konnte und dabei in einer festen Umarmung, ein bisschen abgeschirmt vom Rest, geborgen war. Die Schönheit hatte die Augen weit offen und weitere Tränen kullerten heraus, aber sie ließ es geschehen. Vielleicht konnte sie sich nicht wehren, aber hoffentlich wollte sie es auch nicht.
"Ich weiß, dass es schwierig ist, aber hab keine Angst." Sie flüsterte ganz leise und sah dabei in den Nachthimmel. Sie atmete tief durch, weil sie ebenfalls keine Angst haben durfte, wenn sie Eryn etwas davon nehmen wollte.
"Dir ist klar, was ich sagen will, oder? Wir schaffen das schon. Wir machen dich wieder gesund. Du wirst Derreck wiedersehen. Und hey, daran glaube ich immer noch. Es gibt auch allen Grund dazu, wir haben schon so vieles geschafft, was uns umöglich erschien. Alleine dass wir hier sitzen... und hier und in unserem Lager von Menschen umgeben sind, die viele für verloren geglaubt haben, ist ein Wunder." Von Eryn war nichts als leises aber schnelles Atmen zu hören.
"Aber ich glaube, das allein hilft nicht mehr, oder? Weil nur du weißt, wie du dich fühlst. Ich habe keine Ahnung, ob es gerade weh tut, ob dir die Sinne schwinden oder deine Beine dich bald nicht mehr tragen. Ich kann noch so voller Hoffnung sein, du wirst ganz von selbst spüren, wie sehr du mir da noch zustimmen kannst oder nicht."
Evis Arme hielten die Bardame immer noch fest, als könne sie einzig durch die Berührung jegliches Fortschreiten der Infektion einfach aufhalten. Als würde so die Zeit in Eryns Körper einfach stehen bleiben und nichts und niemand konnte ihr etwas anhaben, so lange sie sie nur nicht losließ.
"Wir teilen uns das einfach auf. Ich übernehme den Part, der immer noch daran glaubt, dass alles gut wird. Keine Sorge, da habe ich genug Optimismus für uns beide. Und du übernimmst den Teil, wo du dich voller Stolz allem entgegen stellst, was auf dich zukommt. Das kannst nur du machen, und du hast auch jedes Recht dazu. Was auch immer du irgendwann mal getan oder nicht getan hast hat dich genau an diesen Punkt gebracht. Es hat dich zu dem Menschen hier gemacht, der es Wert ist, ihn in einer unterschütterlichen Umarmung gefangen zu halten."
Sie lachte kurz und drückte einen Augenblick lang etwas fester zu.
"Es hat dich zu einem Menschen gemacht, den wir schmerzlich vermissen würden. Zu einem Menschen, den wir niemals vergessen würden. Also musst du sehr viele Dinge sehr richtig gemacht haben. Du kannst stolz auf dich sein, ehrlich. Und um alles, wofür du glaubst keine Zeit mehr zu haben, werde ich mich kümmern. Ich werde in alle Ecken der Welt reisen, ich werde mir ein hübsches Kleid besorgen, das nur dir stehen würde, und dann werde ich Derreck finden und ihm sagen, was er dir bedeutet, ich werde ihm sagen was für eine tolle Frau du bist, und dass du auf ihn wartest...."
Nun bildeten sich auch Tränen in Evis Augen, und mit einem tapferen Lächeln blinzelte sie sie weg.
"Oder was dir auch immer recht ist. Es wird auf jeden Fall nichts unerledigt bleiben, das verspreche ich dir."
Einen kurzen Augenblick lang hörte man nur das Knistern des Feuers und die Melodien der Vultures. Evi lächelte Sheng, Haile und Raoul beruhigend zu. Sheng wirkte besorgt, Raoul schien ihrem Blick wissend auszuweichen, und in Hailes Augen lag tiefes Verständnis, als würde sie genau wissen was in diesem Moment vor sich ging.
"Du wirst sehen. Schon bald werden wir hierauf zurückblicken und uns nicht mehr einkriegen vor Lachen, weil ich für dich echt ein Kleid anziehen wollte."