Mit jeder Sekunde fühlte es sich mehr nach dem Ende an. Eryn hatte Schmerzen. Das Gift suchte auch die letzten Winkel ihres Körpers auf, lähmte ihre Glieder. Jede Bewegung tat weh. Es war als würde man ihr Pfähle durch die Haut bohren, an ihren Gelenken zerren und reißen. Praktiken, wie die Barfrau sie ihren Feinden zutraute.
Mit starrem Blick sah sie in das Feuer, um das ihre wilden Verbündeten tanzten. Das Lodern der Flammen war ihr willkommen; Beschäftigung für ihre Augen, die sonst Zeit gehabt hätten, noch mehr Tränen zu vergießen. Denn sie hatte so viel Angst wie nie zuvor.
Sie wollte nicht sterben. Fernab von der Frage, was sie verdient haben mochte, was Schicksal war und was nicht - sie wollte nicht sterben. Eryn war zu jung, um nicht alt zu werden. Welch traurige Ironie sollt es sein, in der Schlacht ihr Leben zu lassen, die anderen das Leben zurückbrachte?
Eine, die bald Wahrheit wird.
Sie malte sich seit Stunden aus, wie es passieren würde, was sie dabei empfand. Würde es versöhnlich werden? Würde sie es spüren? So sehr sie sich zu erinnern versuchte, konnte sie nicht ausmachen, wie der letzte Ausdruck auf Wills Gesicht gewesen war. Würde sie ihn wiedersehen, wenn es soweit war? Das allein war der versönlichste Gedanke, den sie greifen konnte. Ein alberner. Sie stellte sich ein strahlendes Weiß vor, ein Nichts,darin Fragmente der echten Welt. Möbel, wie sie die Barfrau kannte. Ein Regal mit ausgelaufenen Flaschen, vor denen ein verdutzt dreinblickender Vincent stand, als hätte es einen Unfall gegeben. Einige Meter daneben eine metallene Bahre, klinisch wirkend, trotz des Weiß im Hintergrund. Direkt vor ihr Will, der einer schemenhaften Figur eine offene Wunde versorgte, die mehr Hintergrund für seine Finger war. Er rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und sah zu der jungen Frau neben ihm. Mary. Sie flößte der Figur des Patienten eine unbekannte Flüssigkeit ein. Es würde schon helfen.
Und in all dieses Weiß trat nun Eryn. Doch sie kam nicht weiter. Ihre Freunde drehten sich nicht zu ihr. Sie war ein Fremdkörper, wie sie es in der echten Welt war. Die Augen öffnend blickte sie nach links, zu den zwei vereinten Paaren. Ehrlich. Es wäre besser, wenn sie starb. Andere hatten zu viel zu verlieren. Und wenigstens ein kleiner Teil von ihr glaubte an das Jenseits, daran, Mary, Vincent und Will wieder zu sehen. Vielleicht war Derreck auch da.
Wie wenig sie ihr Leben gelebt hatte. Da waren nur die vielen Jahre ohne Sinn, ohne Gefühl. Jahre, die sich die Irin selbst genommen hatte. Und was sie hätte haben können, erkannte sie erst zu spät. In einer Zeit, in der es so schlimm war wie nie zuvor, hatte sie das Glück, den Hauch dessen zu spüren, was lebenswert war. Dass alles genau dann enden sollte, als sie gerade entdeckte, wie man lebt, war eine unglückliche Fügung. Doch vielleicht würde sie wenigstens in den Köpfen der Leute weiterleben, die sie so leichtfertig Freunde nannte, hatte sie den Begriff doch gerade erst verstanden. Sie hoffte, dass Raoul ihr wirklich verziehen hatte, dass Evi sie wirklich vermissen würde, dass die zahlreichen Bewohner nicht bloß um die schöne Hülle trauern würden, die jahrelang das einzige war, dass sie ihnen gezeigt hatte. Dass sie ein letztes Mal den Mensch in ihr sahen, bevor sie das Gefecht gegen die Feinde oder das Monster in sich verlor.
Wieder ein Blick zu den Vultures. Sie feierten als gäbe es kein Morgen. Auf viele würde das zutreffen. Die letzte Feier hatte wie dieser einem Abschied gegolten. In Sheng's Hope erwartete sie noch das Ungewisse, nun eine tödliche Gewissheit. Damals hatte die Infizierte selbst getanzt. Trotzdem der Stil der Wilden ein gänzlich anderer war, wollte sie sich einfach dazugesellen, die letzten Stunden ausschweifend genießen. Doch die spärliche Kraft ihres geschundenen Körpers reichte kaum für die finale Schlacht, der alles gelten musste. Ihr war dieser letzte Tanz versagt. Verschoben, auf ein anderes Leben. Eines, das sie besser nutzen würde als dieses.
Ihre zitternden und fast bleichen Finger legten sich auf Evis freie Hand. Sie war warm und strahlte Kraft aus, die die blasse Frau nicht mehr besaß.
"Danke für alles, Evi!", murmelte sie laut genug. Und als sie in die treuen, glücklichen Augen der Kriegerin sah, die ihre Identität zwischen Vultures und Sheng's Hope gefunden hatte, verlor Eryn abermals den Kampf gegen ihre Tränen.