Kaum zu glauben.
Noch vor einer Stunde stand Léo kurz vor einem massiven Anfall mit der letztlichen Konsequenz, einfach allein zum Forschungszentrum vorzulaufen und dabei wahrscheinlich das Minenfeld und somit sich selbst in die Luft zu jagen.
Keine sechzig Minuten später lag sie verschwitzt und leicht erschöpft im Gras, ziemlich zufrieden mit sich und dem atemberaubenden Mann, der neben ihr lag und hätte beinahe die reich beschmückte Vulture-Anführerin abgestochen, als diese sich bemerkbar gemacht hatte.
„Es gibt also doch ein paar Schlachten, die der Laangkaster selbst kämpft?“
Instinktiv hatte sie nach ihrer Waffe gegriffen und hätte wirklich...
Hätte, wenn sie nicht gerade so tiefenbefriedigt durch Hju und völlig geschockt durch den unerwarteten „Besuch“ gewesen wäre.
Wirklich kaum zu glauben.
Der Anblick Seekers ausgerechnet hier, ausgerechnet jetzt... es machte keinen Sinn, Léo musste nun komplett freidrehen. Selbst nach ihren Maßstäben. Allerdings konnte der Traum ihrer nun erfüllten Sehnsüchte nicht urplötzlich dieselbe Wahnvorstellung entwickeln, denn er begann unbeschwert mit der Anführerin zu palavaren.
Einen Kniff später war sich die Latina auch sicher, dass sie nicht träumte.
Ihre Stammesschwester, diese Frau, die sie aus Eifersucht fast getötet hatte, die Frau, die mitsamt ihrem Stamm etwas verkörperte, was Léo zutiefst bewunderte und gefiel, stand hier rum, als wäre es das Normalste der Welt.
Und sie konnte nur hochstarren und versuchen, diese Tatsache sacken zu lassen.
Dann waren der Zuwachs an Menschengewühl Voodoo, Needle und der ganze restliche Vulture Clan? Wieso zum Teufel waren sie hier? Seekers Klamotten schlossen auf eine Art Kriegsaufmachung- also wollten sie ihnen helfen?
Den Gesprächsfetzen zufolge, die Léo durch ihre Gedankenflut mitbekam, war dies der Fall.
Etwas war anders, dass Léo die Situation so tief traf. Sie verstand nicht, warum sie nicht einfach locker flockig aufstehen und Seeker anständig gegenüber treten konnte. Oder irgendwas machen konnte, was nicht daraus bestand, grenzdebil zu glotzen.
Vor einer Stunde war ihre gesamte Welt ein dampfender Haufen Scheiße, den ihr verfressenes Maultier nicht besser hinpflanzen hätte können.
Jetzt... war es immernoch ein Haufen Scheiße, aber es störte sie nicht so immens, eigentlich gar nicht mehr.
Die beiden Anderen sprachen gerade über die Anhängsel. Sie sollte sich vielleicht mal beteiligen.
"Idiota. Ich war von Anfang an dafür, dass wir das sofort zu Ende bringen, ohne Umwege."
Ihre Worte klangen so hohl, abgedroschen. Wie oft sie das in den letzten Tagen und Wochen gesagt hatte.
"Der Laangkaster sollte auf sein Affenmädchen hören. Schlachten aufzuschieben und der gefiederten Schlange ihr Blut zu verweigern erweckt ihren Zorn und bringt Unheil über deine Leute!"
Den Stich, den der Name „Affenmädchen“ wegen Álvaro in ihr auslöste wurde übertüncht von der eigenartigen Wärme, dass ihre Stammesschwester ihr in solch einer Frage zustimmte, ohne Hintergedanken oder Spott.
"Die Vultures wollen Blut vergießen und eine Schlacht haben? Die sollen sie bekommen. Egal in welchem Zustand sich meine... unsere Leute befinden. Wir haben immer noch genug ernsthafte und entschlossene Krieger. Also..."
Hju war aufgestanden und hielt ihr die Hand hin. Ohne zu zögern ergriff sie sie und ließ sich aufhelfen. Stand da, bis auf ihr Lippenpiercing und das Tattoo auf der Brust splitterfasernackt, immernoch die Machete in der Hand, weiterhin ungläubig der Vulture entgegenstarrend.
"...reitest du mit mir, Laangkaster, und deiner Stammesschwester in die Schlacht und feierst diesen glorreichen Moment wie es sich gebührt?"
Während die befiederte Amazone antwortete, traf Léo die Erkenntnis.
Seeker hatte ihr gefehlt. Die beiden hatten keine lange gemeinsame Geschichte, dafür aber eine umso einschneidendere. Sich gegenseitig die Kehle aufschlitzen zu wollen verbindet auf ganz besondere Weise.
Sie war froh, ihre Stammesschwester wiederzusehen.
Die gerade Hju knutschte.
Und schon war jede weitere Sentimentalität verpufft.
Interessanterweise wollte sie ihr nicht sofort die Faust in’s Gesicht rammen, was vielleicht daran lag, dass dies geradzu diskret war im Vergleich zu dem Gebahren, dass Kerosin immer abgezogen hatte. Das härtete sie in der Hinischt wirklich ab.
Die Ansprache der Anführerin hatte geendet und nun wandte sie sich Léos Körper zu, strich zwischen ihren Brüsten hinauf, was Léo eine Gänsehaut bescherte und grinste sie böse an.
„Wir feiern. Heute Nacht das Leben. Morgen den Tod.“
Keine Sekunde später war auch Seeker nackt. Erst jetzt fiel der Halbmexikanerin auf, wie schön ihr Gegenüber eigentlich war.
Mit all dem Körperschmuck aus Metall und Tinte wirkte sie wie ein lebendes Kunstwerk. Ihre Augen glitten an den vielen bedeutungsvollen Linien entlang, bewundernd und fasziniert.
Schier endlose Augenblicke vergingen, ehe Leocadia ihre Machete aus der Hand gleiten ließ und ihre Stammesschwester zu sich zog. Haut traf auf Haut, noch ehe sie ihre Lippen fest auf die Seekers presste. Nur im Gegensatz zu damals in der Schlammgrube nicht aus Notwehr und Verzweiflung, sondern um ihr so zu zeigen, was ihr mit Worten einfach nicht möglich war.
Leuten direkt und frei zu sagen, dass sie sie leiden konnte oder ihr gar noch mehr bedeuteten war etwas, dass schon lange nicht mehr in Léos Repertoire gehörte. Noch ein Grund, der ihr plötzliches Erscheinen so toll machte. Damit hatte sie die Latina vor etwaigen „Bettgesprächen“ mit Hju bewahrt, die unweigerlich in eine für Léo sehr unangenehme Richtung hätten gehen müssen.
Ihre Arme schlang sie um die Anführerin, drückte sie gegen sich.
Als sich die Lippen schließlich voneinander lösten, nicht, ohne dass die Spirale kurz hängen blieb, hob und senkte sich Léos Brust schwer.
Einen Augenblick fiel ihr Blick vorbei an Seeker hinaus aus dem Zelt und auf ein von Bäumen verstecktes Gebäude am Ende des Parks. Merkwürdig, dass sich darum noch keiner geschert hatte, etwas in ihrem Hinterkopf pochte, was sie in San Antonio wie beiläufig von der Gruppe aufgeschnappt hatte. Ein Zeichen....
...welches warten musste.
Ihre dunklen Augen hefteten sich an die Seekers.
"Willst Du Deine Revenge für die Grube, Schwester?“