Raouls Blick blieb immer wieder an Eryn hängen, die gerade dem alten Mann aus Shengs Hope irgendetwas sagte. Haile schaute nicht hin. Hörte nicht hin.

Eryn.
Eryn, die Mutige.
Eryn, die so sein wollte wie Haile.

Eryn, die nicht wusste, was sie da sagte.

„Sie wirkt bei Weitem nicht mehr so arrogant wie früher, finde ich.“
"Sie wird sterben."
"Was?"

Raoul starrte Haile mit offenem Mund an.

"Ich...ich...kann es sehen."
"...Oh."
"..."
"Das ist...ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll."
"..."

Die beiden saßen unter dem Baum, ihre Hände ineinander verschlungen und Raoul streichelte vorsichtig mit seinem Daumen über Hailes Hand. Die Stille zwischen Ihnen war nicht unangenehm. Das schätzte Haile wohl am meisten an ihm. Dass er nicht von der Dunkelheit verschlungen wurde, wie alle anderen um sie herum. Dass er es geschafft hatte, Haile nicht nur vor wenigen Stunden im Dome aus der Dunkelheit zu ziehen, sondern auch jetzt derjenige war, der sie von ihren Schuldgefühlen befreit hatte.

"Sollten wir zu den anderen gehen? Ich meine, nicht, dass sie dich verdient hätten..."

Er lachte einmal kurz auf.

"...?"
"Die anderen...sie haben immer auf uns hinabgeblickt. Auf mich sowieso, klar, ich bin ja auch kein Engel. Aber du...du hast ihnen nie etwas getan. Du warst ihr Sündenbock. Standest für alles Böse, was die Kultisten getan haben. Ich hab' sogar noch im Dome gehört, dass einige dich für all das verantwortlich gemacht haben."
"..."
"Ich hab das nie geglaubt."
"..."

Er drückte Hailes Hand kurz.

"Ich...ähm...ich...egal."

Ärgerlich räusperte Raoul das Zögern in seiner Stimme weg, das leichte Zittern, welches Haile so gefiel.

"Wollen wir gehen?"
"...!"

Gemeinsam standen sie auf, immernoch Hand in Hand. Sie schauten sich kurz in die Augen und bewegten sich dann wie von einer unsichtbaren Macht gezogen aufeinander zu. Haile schloss die Augen, während sich Raouls Hand vorsichtig um ihren schlanken Körper bewegte und sie an seinen Körper drückte....


"Eyyyy, Shenga! Meine Fresse, wat hab ich dich vermisst!"
"...!"

Kerosa schlug sich seitlich durch die Büsche und baute sich breit grinsend vor den beiden auf. Auf ihrem Rücken trug sie eine wirklich gefährlich aussehende Vorrichtung aus glänzendem Metall.

"Ich dacht' schon, ihr wolltet mich da bei den Niedrigtourern verrotten lassen mit diesem Scheiß-Metalltank, und da dacht ich mir, ey, suchst du mal meine Shenga, und bringst ihr was Nettes mit."

Sie fummelte etwas an ihrem Rücken herum und hielt Haile dann einen glänzenden Chromspeer hin. Er war bei weitem nicht so massiv wie das Metallteil, dass Kerosa vor so vielen Wochen in Hailes Schulter versenkt hatte. Im Gegenteil, er wirkte filigran, perfekt ausbalanciert und irgendwie...komplett untypisch für Kerosa.

"So eine chromlose Reifenlutscherin hat das Teil verloren, als ich ihr einen kleinen Sonnengruß im Schädel versenkt hab. Das war so krass, ey, ich hatte kurz Angst, ich hätt' dich dich angefahren, so ähnlich sah die dir. Chromhaare und so. Aber fick die Wand an, Shenga, hast du dir auch endlich was zum Bumsen besorgt?"
"..."
"Ey, aufm Weg hierher hab ich noch so einen Reifenwämser erwischt, so ein Kerl mit echten Verschleißerscheinungen und viel PS, wenn du verstehst, was ich meine."
"..."
"Um den mal ordentlich auf Touren zu bringen hab ich noch ein bisschen mit dem Arsch gewackelt, dem wären fast die Augen rausgefallen, so krass war das."

Kerosa hatte sich in Pose geworfen und machte sich daran, Haile und Raoul ebenfalls ihr Hinterteil zu präsentieren.

"Eyyy, ich hab gehört, wir hauen den Chromlosen eine in die fiese Fresse? Count me in, Shenga, dann werd ich endlich meine Schuld abfahren und mit dir explodieren wie die Sonne, die den Weltenmotor antreibt."

Strahlend setzte sich das Energiebündel in Bewegung. Raoul schaute Haile komplett entgeistert an.

"Ist das..eine echte Flameriderin?"
"...!"

Sie folgten der jungen Frau auf dem Fuß - und Haile hatte ehrlich ein wenig Angst, was sie erwarten würde. Ob die Dorfbewohner von Shengs Hope in ihr immer noch das Monster aus dem Kult sahen - jetzt noch mehr als vorher? Während Kerosa solche Gedanken nicht zu haben schien - oder überhaupt Gedanken - spürte sie auf dem kurzen Weg, wie Raoul sie aufmunternd in die Schulter knuffte und war sich sicher, dass zumindest er sie vor der Wut der Bürger beschützen würde.