„Ich wäre für sie gestorben. Sie ist meine Tochter.“
Sheng sagte dies mit voller Überzeugung, fast sogar mit Stolz, aber da war noch etwas völlig anderes, das all dies übertönte. Seine Stimme wirkte belegt und seine Augen huschten immer wieder zur Seite, sahen Evi gar nicht an.
Ich wünschte, ich wäre wirklich für sie gestorben.
Das hatte er eigentlich gesagt, nicht wahr?
"Ich weiß.", entgegnete Evi schwach. Sie spürte, wie alles in ihr zusammenzubrechen drohte. Alles an ihrem Körper richtete sich bereits auf eine Flucht aus - sie war nicht die Richtige, egal was Eryn gesagt hatte, es bedeutete ihm nichts. Nicht jetzt. Sie musste weg von diesem Mann, dessen Leben ihr mehr Wert war als ihr eigenes, während er selbst diesen Wert überhaupt nicht anerkannte. Es kränkte sie, dass er nicht froh war am Leben zu sein. Und es schmerzte sie, dass er nicht glücklich sein konnte.
Aber dann sah sie ihn erneut an - sah seine geröteten Augen, seine unruhigen Hände und seine zusammengepressten Lippen. Und sie fühlte, dass, wenn sie jetzt gehen würde, alles vorbei sein würde. Selbst wenn sie alle überlebten, Georgina besiegten und Adam sicher an sein Ziel bringen würden... dieser Moment würde immer zwischen ihnen stehen. Wenn sie jetzt so auseinander gingen, würden sie sich das nächste Mal wie Fremde begegnen, deren Wege sich kurz und heftig gekreuzt hatten, aber nicht mehr als ein Wimpernschlag auf der langen Linie der Zeit waren.
Evi zwang sich, ihren Körper unter Kontrolle zu halten. Sie musste stehen bleiben, sie musste hierbleiben und es durchstehen, sie musste für Sheng da sein. Es ging nicht um sie, sondern um ihn. Man wandte sich nicht von jemandem ab, den man gern hatte, nur weil er nicht reagierte wie man es haben wollte.
Sie wollte ohnehin nur, dass er glücklich war und vielleicht noch ein Mal sein hoffnungsvolles, ehrliches Lächeln sehen.
"Haile ist... sie ist es wert." Die Taucherin bemühte sich um einen unbeschwerten Ton. "Du weißt ja noch gar nicht, was sie alles getan hat. Echt verrückt, das musst du dir anhören." Nun schaffte sie sogar ein Grinsen.
"Lass uns spazieren gehen, dann erzähle ich dir alles." Evi widerstand dem Impuls, Sheng an der Hand zu nehmen oder sich einzuhaken und wies einfach in die Richtung, wo die kleinen Seen lagen. Vielleicht würde sie sogar die Füße in das Wasser halten können.
Der Bürgermeister ging wortlos neben der Rothaarigen her. Sie konnte nicht ausmachen, ob er sich etwas entspannte, aber zumindest schien er zuzuhören und sich weitestgehend auf ihre Erzählung zu konzentrieren. Und was sie alles zu erzählen hatte!
Sie berichtete von dem Kran, den Haile zum Einsturz gebracht hatte und wie sie damit Jackman das Leben gerettet hatte. Davon, wie das Mädchen die Gefangenen der Vultures unbedingt befreien hatte wollen und später Jackal mit Léo vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Von dem Plan mit der Transportkiste, um an die verdammte ABBA-Kassette zu kommen. Von dem Ausflug in den Zoo, wo sie erst eine Schlange mitnehmen hatte wollen und später beim Kampf mit dem Zombrilla die Taucherin selbst vor dem Tod bewahrt hatte. Wie sie alle unglaublich erleichtert gewesen waren, als die Klutistin nach dem Kampf gegen ihren eigenen Vater wieder sicher bei ihnen aufgetaucht war.
Und schließlich erzählte sie davon, wie Haile mit ihnen gesprochen hatte, vor allem als es daran war zu entscheiden, ob die Bewohner von Shengs Hope gerettet werden sollten oder nicht.
"Sie bedeutet uns allen sehr viel, weil sie wirklich etwas Besonderes ist. Eryn hat das Wort "inspirierend" benutzt... Haile hat in uns allen etwas bewegt."
Sheng und Evi hatten die kleinen Seen längst erreicht und für eine Weile hatte die Taucherin völlig vergessen, warum sie das alles eigentlich genau jetzt erzählte. Achtlos zupfte sie an einer der Hecken, während der Mann, den sie glücklich machen wollte, gedankenverloren in die Ferne sah.
"Ich würde ja sagen, dass du bereits dein Leben für Haile gegeben hast, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn. Oder denkst du, sie wäre von ganz alleine zu diesem wundervollen Mädchen geworden? Natürlich hat sie alle Voraussetzungen mitgebracht, aber du hast sie umsorgt, beschützt und geliebt. Du hast ihr vorgemacht, wie man ein guter Mensch ist und ihr den richtigen Weg gezeigt. Ich bin sicher, dass dein Einfluss sie einfach nur noch stärker gemacht hat."
Evis Augen leuchteten richtig, als sie dies sagte, denn sie war voller Überzeugung, dass sie recht hatte. Und dann fiel ihr etwas ein, was seit einer gefühlten Ewigkeit an ihrem Herzen ruhte. Als sie es gefunden hatte, war die Hoffnung, Sheng jemals wieder gegenüber zu stehen, fast nicht existent gewesen. Aber hier war er nun.
"Du hast überhaupt ein Talent dafür, einen guten Einfluss auf jemanden zu haben, selbst wenn du nicht mal da bist. Du gibst Hoffnung."
Mit einem geschickten Griff holte die Taucherin ein schon leicht zerknülltes Blatt Papier aus ihrer Brusttasche hervor.
Zitat
"Das haben wir in deinem Zimmer gefunden. Ich konnte kaum fassen, dass du so sehr an uns geglaubt hast... Ich habe es stets bei mir getragen, weil es mir immer wieder Hoffnung gegeben hat. Ich konnte genauso fest Glauben wie du - nicht nur, dass wir unsere Aufgabe bewältigen, sondern vor allem, dass wir euch retten werden."
Das Blatt Papier wackelte in Evis Hand sachte hin und her, weil sie leicht zitterte. Sie wusste nicht einmal warum, aber der Moment war einfach so unfassbar. Die Erinnerung an den Fund dieses Stückes nun damit zu verbinden, dass sie ihre Freunde - die Leute ihrer Heimat - tatsächlich gerettet hatten, war ein überwältigendes Gefühl.
"Jemand, der so stark an andere glaubt wie du, hat vielleicht für sich selbst nichts mehr übrig. Aber falls es dir irgendwie hilft: Ich habe da auch genug für uns beide. Und das wird sich nie ändern."





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