"Alles okay bei dir?"

Keine Frage auf der ganzen, verkommenen Welt hätte es mehr verdient gehabt, mit einem dicken fetten 'Nein' beantwortet zu werden. Eryns Kampf mit dem Giganten hatte sie bis an die Grenzen gebracht, eigentlich darüber hinaus. Und das ausgestoßene Adrenalin brachte etwas anderes zurück. Etwas, das die Barfrau so gut es ging zu verdrängen versucht hatte.

Es pumpte heftig in ihr. Mehr als ein mal erwischte sich die ehemalige Kellnerin dabei, wie sie auf dem Weg vom Alamodome hin zur vorzeitigen Sicherheit des idyllischen Golfplatzes auf die Adern an ihren Handgelenken sah. Was sie anfangs noch als Finte von Torres hatte abtun können, war für die Irin nun absolute Gewissheit. Das Gift, das Menschen in Monster verwandelte, bahnte sich tatsächlich den Weg durch ihr Blut und würde nicht mehr lange darauf warten, vollends Besitz über den geschundenen Körper der 25-Jährigen zu ergreifen. Es fühlte sich an, als würde es all ihre Kraft erfordern, es noch aufzuhalten. Dies war ein Moment, den sie alle genießen sollten. Doch das war ihr nicht vergönnt.

Wieder musste jemand aus den eigenen Reihen abtreten, der tapfer für die Rettung der Freunde gekämpft hatte, die nicht mal die ihren waren. Zu allem Überfluss erinnerte das ehemalige Haustier der Druidin November allein durch seine Anwesenheit an ihren Tod. Und Snowball? Das Haustier der Schönheit hingegen hatte sich seit ihrem Kampf gegen das stinkende Wachmonster nicht mehr an sie herangewagt. Widersprach sie einfach dem guten Geschmack der Katzendame oder merkte das Tier, was in ihr schlummerte? Wie es auch war - sie traute sich nicht, die notwendigen Schritte auf die vormals treue, vierbeinige Begleitung zuzumachen.

Und dann war da noch Raoul. Eryn hätte schwören können, dass er sie jeden Moment bemerken und vor allen entlarven würde. Oder hatte er sie schon bemerkt? War er weitsichtig genug, mit der Anklage zu warten? Plante er seine Rache still und leise? Hatte er es vergessen? Oder war er bei Georgina durch so viel Schreckliches gegangen, dass es nicht mehr relevant war, was sie ihm angetan hatte? Sein Überleben nahm nicht die Schuld von ihr. Sie wurde nicht unschuldig dadurch, dass er noch da war. Was sie getan hatte, war noch von Bestand, er hatte im Anschluss nur Glück gehabt. Doch ehrlich freuen konnte sie sich über seine lebendige Anwesenheit nicht. Auch nicht über die von Morris, Sheng oder einem der anderen. Denn der Mann, den sie am sehnlichsten sehen wollte, war nicht hier.

"Alles gut!", antwortete die Irin Evi auf ihre Frage.

Doch das Lächeln, zu dem sie sich zwang, war ein schlechtes, das niemand ihr abgekauft hätte. Ihre Stimme war farblos und schwer. Was sollte das? Warum konnte sie nicht endlich ehrlich sein? Diese Reise hatte sie besser gemacht, das sagte sie sich selbst immer wieder. Will, Evi, Haile und alle anderen haben sie reifen lassen. Sie bereute ihre Fehler und trotzdem wiederholte sie, was sie hatte ablegen wollen. Sie war wie die tausenden Alkoholiker, die sie selbst im Dusty Derreck's bedient hatte. Die sich am frühen Morgen schworen, nie wieder zu trinken und am Nachmittag schon zum nächsten Glas griffen. Sei ehrlich!

"Nein, Evi. Es geht mir nicht gut. Es geht mir fürchterlich."

Na bitte.

"Es gibt so viel, das mich belastet. Ich fürchte mich vor allem, was uns bevorsteht. Ich will nicht sterben, Evi. Und ich will vor allem nicht sterben, wenn ich... wenn es so viel gibt, dass noch ungesagt und... und ungetan ist. Ich möchte niemanden volljammern, das habe ich noch nie getan. Aber... wenn ich vernünftig gegen die kämpfen will, muss ich das loswerden." Eine kurze Pause, nur das schwere atmen einer Infizierten und das Schniefen einer Verzweifelten. "Ich brauche eine echte Freundin, Evi. Und es tut mir Leid, dass ich deinen Namen so oft sage. Aber... hilfst du mir?" Sie sah ihre Freundin hilfesuchend an.

"Und nein, das sind keine Tränen." Eine kleine Lüge war erlaubt.