Da war es. Ganz klein und nicht besonders stabil, aber es war da. Das, was Sheng ausmachte. Das, was sie am meisten an ihm liebte. Jetzt musste sie es nur festhalten und bewahren, damit es nicht mehr weggehen konnte.
"… du hast… Besseres verdient.“
Es hörte sich mehr wie ein leises Echo an als Worte, die wirklich aus seinem Mund kamen, aber sie hatte es gehört. Und nun schien die sanfte Brise, die ihr von hinten über den Kopf strich, sämtliche Zweifel und Sorgen mit sich fortzutragen. Plötzlich fühlte sie sich stark und mutig und vor allem bereit, nichts mehr zurückzuhalten.

"Du bist der beste Mensch, den ich kenne, ganz ehrlich. Ich finde du hast gar keinen Fehler gemacht, aber wenn du darauf bestehst, dann habe ich dazu auch was zu sagen. Ich habe ja jetzt so einiges an Erfahrung mit Anführern gesammelt.", begann Evi lächelnd.
"Die Anführerin von den Vultures, Jackman - also Lancaster -, und ich zähle jetzt einfach mal Enigma dazu, obwohl er eigentlich auch nur Befehle ausführte, aber er hatte trotzdem den Respekt seiner Leute und... wie auch immer." Sie grinste bei der Erinnerung an die Leute, die sie getroffen hatte und fühlte sich noch besser. Alles, was sie erlebt hatte, hatte sie ein bisschen auch für diesen Moment gerüstet, und sie war dankbar für all die Erfahrungen.
"Sie alle haben irgendwann einmal Fehler gemacht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was Jackman sich schon alles anhören musste. Aber am Ende war ihnen die Treue ihrer Leute sicher, weil sie zu dem gestanden sind, was sie entschieden, getan oder nicht getan haben. Wenn du mich fragst, dann sehen dir die Menschen nicht mehr in die Augen, weil du sie auch nicht ansehen willst. Sie erwarten gar nicht, dass du etwas rückgängig machen kannst und sie wollen dir gar nicht vorwerfen, dass du keine Ahnung hattest. Sie wollen bloß irgendetwas. Wenn du dich dem stellst, was passiert ist, dann können sie das auch. Ich sagte doch, du verbreitest Hoffnung, das war schon immer so, und wenn du das nicht mehr kannst, wo sollen sie dann anfangen?"
Sheng sah Evi zweifelnd an und sie nickte ermunternd.
Eine Weile lang hörten sie nur das Glucksen der Seen und vielleicht irgendwo entfernt Stimmen der anderen, die hier in dieser Idylle aber eher wie eine leise Melodie klangen.

"Ich weiß nicht was du alles mitbekommen hast, aber als ich auf den Kran geklettert bin, um dich zu holen, da ist Wingman völlig durchgedreht. Ich dachte erst er wollte mich davon abhalten, dir zu helfen, aber inzwischen weiß ich, dass ich falsch lag. Er hat dauernd gerufen 'Hört nicht auf ihn!' und wollte mir sogar nach." Sie imitierte Wingmans Stimme, was ziemlich erbärmlich klang, aber immerhin brachte sie Sheng zum Lachen. Festhalten und bewahren.
"Jedenfalls wusste er wahrscheinlich, worum du mich bitten würdest. Er wollte dafür sorgen, dass dir nichts passiert und dich am liebsten selbst von da runter holen. Und wenn Wingman, also wirklich unser panischer Wingman - du kennst ihn doch - nach alledem zu dir steht, dann ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass du dir zu viel selbst Schuld gibst."

Evi drehte sich nun so zu ihm, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Ihre Haare tanzten vom Wind wild durch ihr Gesicht, aber sie strahlte Sheng voller Wärme an.
"Das mit Wingman erzähle ich dir nur, weil es ja sein kann, dass das was ich sage dir wie hohle Phrasen vorkommt. Ich meine es ernst, aber ich weiß nicht, ob es auch so rüberkommt. Ich bin ja wahrscheinlich nicht gerade die objektivste Person, wenn es um dich geht. Immerhin bin ich so schrecklich verliebt in dich, dass ich lieber gestorben wäre, als in einer Welt ohne dich zu leben."