Nachdem Haile geschmeidig vom Monstertruck gesprungen war, bretterte Jackman an den Kran heran. Evi sah sich nicht um, sie hatte nur dieses Gerüst vor Augen, das sie erklimmen musste. Ihr kam vor, als wäre dies der Moment, auf den sie seit Ewigkeiten hingearbeitet hatte - als wäre die Sache mit Adam nur ein Vorwand gewesen, um hier und jetzt genau an diesem Punkt sein zu müssen.
Einen kleinen Augenblick lang musste sie innehalten und sich zwingen, sich zu erinnern. An die zerstörte Heimat, die brennenden Häuser und die Spuren im Staub. Der Ring von Jäger glänzte wild an ihrem Finger, und nun richtete sie ihren Blick nach oben. Es wirkte, als würden sie Kilometer vor der Spitze trennen.
Sheng. Sheng. Sie dachte an nichts anderes, als an Sheng, als ihre Hand das Metall berührte.
Mit einem Satz war die Taucherin auf dem Gerüst und bei jedem Griff und Schritt atmete sie laut ein oder aus, um einen Rythmus zu finden und sich die Kondition gut einzuteilen. Es war als wäre sie im Wasser, nur musste sie sich vertikal nach vorne schwingen.
"...NICHT AUF IHN..." Irgendwo hinter sich hörte sie laute Rufe. "ER LÜGT!" Evi wollte sich nicht umsehen, sie musste konzentriert bleiben, aber sie bekam das Gefühl nicht los, dass es um Sheng ging. "ALLE KULTISTEN LÜGEN!" Es war Wingman, das konnte sie jetzt ausmachen. "ER LÜGT! NEIN! HÖRT NICHT AUF IHN!"
Nur einen kurzen Augenblick lang zögerte sie mit ihrem nächsten Griff, aber es war kaum mehr als ein Zwinkern lang.
Nichts würde sie aufhalten, Sheng zu retten, nichts.
Léo und Jackman kamen kurz vor der Taucherin ganz oben an, und stürzten sofort weiter zum Anführer der Kultisten, während Evi sich gerade auf den Arm des Krans hochzog.
"Evi!", hörte sie ein Rufen. Sein Rufen. Es war das erste Mal seit so langer Zeit, dass sie seine Stimme hörte, und sie befürchtete ihr Herzschlag würde aussetzen. Stattdessen winkte sie ihm durch eine kurze Handbewegung völlig dämlich zu, bevor sie vorsichtig, aber zügig an die Stelle trat, an der er hing.
„HÖRT NICHT AUF SHENG! ALLE KULTISTEN LÜGEN!“ Es war nur ein leises Echo, das Evi beim Blick auf den Mann am Kran wahrnahm.
"Ich... ich bin so froh.", sagte er erschöpft, aber erleichtert. Die Taucherin lächelte und packte das Seil. "...So froh, dich noch ein letztes Mal zu sehen."
Evi stutzte und ließ den Strick los.
"Was redest du da? Ich bin hier um dir zu helfen."
"Das kannst du. Indem du mich losschneidest."
Die Taucherin lachte auf und machte sich erneut daran, das Seil zu packen.
"Ich meine es ernst. Evi. Sieh mich an."
Widerwillig wie ein kleines Kind richtete sie ihren Blick auf ihn. Sein Gesichtsausdruck war flehend.
"Schneide das Seil durch. Wenn ich in die Grube falle, dann... dann kann ich dort das Los von Haile erleichtern. Es... ist besser so. Mach es ihr zuliebe."
Er meinte es völlig ernst. Er meinte es wirklich völlig ernst!
Evi wischte sich kurz übers Gesicht. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah nach oben. Als hätte sie alle Zeit der Welt atmete sie tief durch, kämpfte mit Tränen, die sich sich jetzt nicht erlauben konnte und wandte sich dann regelrecht verärgert an Sheng.
"Idiot. Haile bringt mich um, wenn ich dich da reinfallen lasse. Ich glaube es ist an der Zeit, dass du sie mal entscheiden lässt, was gut für sie ist. Glaubst du ehrlich, dass auch nur irgendetwas leichter für sie wäre, wenn sie um dich trauert?"
Sheng sah Evi in die Augen und nickte.
"...Bist du wahnsinnig? Ich..." Wieder der Blick an die Decke. Dann nach unten. Dann zu Sheng. Er lächelte ermutigend. "...Okay."
Mit einer schnellen Bewegung schwang sich die Taucherin auf das Seil. Das rauhe Material tat in den Handflächen weh, aber ansonsten war es ein Leichtes, daran nach unten zu rutschen.
"Was machst du denn da?", rief Sheng völlig außer sich, aber da war sie schon fast bei ihm angekommen. Evi rutschte so weit nach unten, dass sie schließlich seine Schulter packen und sich an ihn heranziehen konnte. Nun hielt sie nichts, außer der Umarmung, in der sie ihn umklammert hielt. Ihre Köpfe waren nun so nebeneinander, dass ihr Mund direkt an seinem Ohr war. "Ich werde keinen einzigen Schritt mehr ohne dich gehen.", flüsterte die Taucherin dem Bürgermeister zu.
"Weißt du, was ich stets vor Augen habe, seit wir losgezogen sind, um Adam sicher ans Ziel zu bringen? Was ich Tag und Nacht, jede Sekunde, und einfach mit jedem Herzschlag von mir gesehen habe? Es war dein hoffnungsvolles Lächeln. Ich wollte allen Menschen so ein hoffnungsvolles Lächeln schenken. Und ich wollte dich noch einmal so glücklich sehen. Wenn das nicht möglich ist, dann will ich auch nicht mehr. Ich beende es, hier und jetzt."
Ohne zu zögern griff sie nun nach ihrem Beil, das an ihrer Hosenlasche hing. Es war ein wahrer Kraftakt, es nur mit einer Hand zu erwischen, aber die Taucherin merkte kaum, wie kleine Schweißperlen ihre Stirn zierten.
"Nein, das wirst du nicht tun!", rief Sheng, der nun endlich verstanden hatte, was sie im Begriff war zu tun.
"Sag mir nicht wie ich sterben soll."
Evi schaffte es gerade so, sich wieder etwas nach oben zu hangeln und mit einer Hand das Seil zu umfassen. Mit der anderen führte sie das Beil an die Schnur.
"Hör auf!" Es war nun offenbar wieder mehr Leben in den Bürgermeister zurückgekehrt, denn er begann ein bisschen zu zappeln.
"Hey, willst du dass ich runterfalle und du dann bis in alle Ewigkeiten hier hängst? Die Kultisten werden dir nämlich nicht runterhelfen, auch nicht auf die Art, wo du dann sterben würdest. Die werden gerade verprügelt."
Sheng schien einen kurzen Moment lang verarbeiten zu müssen, in welcher Situation er sich gerade befand.
"...Hör auf. Du darfst nicht wegen mir..." Er wirkte geschlagen. "Es ist ein Fehler, aber ich kann dich nicht mit in den Tod reißen."...Bist du dir sicher?" Ein Nicken.
Evi rutschte langsam wieder nach unten. "Also darf ich dich nun bitte retten?", fragte sie sanft und Sheng nickte erneut. Einen kurzen Moment lang sahen sie sich in die Augen, dann kletterte die Taucherin schon eifrig an dem Seil nach oben. Nur wenige Augenblicke später hatte sie den Strick nach oben gezogen, und glücklich keuchend half sie dem Bürgermeister aus diesem seltsamen Korsett zu kommen.
"Ich wollte das nicht. Es wäre für Haile wirklich besser, wenn ich jetzt da unten liegen würde." Es wirkte, als müsste er dies unbedingt nochmal loswerden, weil es sein Gewissen plagte, aber er hatte den Widerstand längst aufgegeben.
Evi half Sheng, der natürlich geschwächt war, so gut es ging wieder nach unten zu kommen. Es war nicht einfach, jemanden zu stützen und gleichzeitig zu klettern, aber nach unten war es definitiv einfacher als nach oben. Sie hatte einen Teil des Seils mit ihrem Beil abgeschnitten und es zur Sicherheit um ihre Hüfte und dann um seine gebunden, so dass sie auch im Notfall noch etwas ausrichten konnte. Außerdem...
"Nicht dass du auf die Idee kommst, dich noch irgendwo in die Tiefe zu stürzen.", meinte die Taucherin grinsend, als sie eine kurze Pause einlegten. Doch Sheng grinste überhaupt nicht und schüttelte ernst den Kopf.
"So nicht. Außerdem ist die Entscheidung gefallen. Und jetzt muss ich auch mal dein Leben retten... oder es zumindest so gut ich kann schützen." Ich werde keinen einzigen Schritt mehr ohne dich gehen.