Ohne zu zögern watete Léo weiter voran, sobald sie sah, dass Hju ihr folgen würde.
Das eiskalte Wasser stach wie tausend Nadeln auf ihrem nackten Körper.
Erst als die Wellen ihre Hüfte umschwappten kam sie zum Stehen.
Eine fast schon friedliche Stille lag über der Bucht. Der Mond ging langsam auf und spiegelte sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Würde sich in ihrem Rücken nicht das zerstörte Shengs Hope befinden, hätte man die Szenerie fast schon als malerisch bezeichnen können.
Léo wandte den Blick ab, um Lanaster neben sich auftauchen zu sehen. Er trieb auf dem Rücken, die Augen geschlossen.
Aber vor allem:
Splitter.
Faser.
Nackt.
Eigentlich gab es keine Diskussion für sie. Das Buffet war eröffnet, also ran an den nichtvorhandenen Speck.
Langsam ging sie neben ihm in die Knie. Ihre Brüste tauchten immer wieder aus dem Wasser empor, bevor die nächsten Wellen sie wieder überspülten.
Léos Hand suchte und fand die feste Brust Hjus. Einige Moment verweilte sie einfach nur da und spürte seinen kräftigen Herzschlag, ehe sie sich auf Wanderschaft begab. An den Rippen entlang zum muskulösen Bauch, um den ihn der Rest der männlichen Gruppenmitglieder immer noch beneiden konnten. Die Fingerkuppen drehten ein paar Kreise um seinen Bauchnabel, ehe sie sich vorwitzig dem eigentlichen Ziel auf Hüfthöhe näherten- und auf halbem Weg stoppten.
War sie wirklich so notgeil, dass sie ihn selbst wollte, wo er offensichtlich nicht auf der Höhe war und sich fast schon wie eine tote Robbe vor ihr treiben ließ? So völlig ohne jegliche Dominanzspielchen?
Und überhaupt- was war das schon für eine verkorkste Interaktion, die sie da hatten? Jedes Mal, wenn sie sich über den Weg liefen, passierte a) gar nichts (abgesehen vom Auslösen von Hungergefühlen jeglicher Art in Léo) b) Hju spielte sich als Anführer auf und sie kuschte murrend oder c) sie fielen übereinander her, wobei b) zumindest im ersten Teil auch auftreten konnte.
Im Grunde gar nicht so schlecht im Vergleich zu dem Fehlen an sozialem Kladderadatsch, den sie mit der Mehrheit der Gruppe betrieb. Oder dem Teil, dem sie die Kehle herausreißen wollte.
So in ihren Gedanken begann sie ihren Kurs zu ändern und den sich als Treibgut Ausgebenden bedächtig abzuwaschen. Die nach wie vor leicht blutverschmierten Hände waren zuerst dran.
Es gab eigentlich keinen Grund, warum das nicht gehen sollte. Er wollte sie anscheinend ebenso wie sie ihn, eine klare, unverfängliche Sache. Kein großes Drumherum, dass Alles nur verkompliziert und sie über kurz oder lang in Schwierigkeiten bringen würde.
Die Halbmexikanerin arbeitete sich an den Armen entlang, nur das Rauschen der Wellen und das entfernte Knistern des Lagerfeuers waren zu hören.
Wenn es nur einmal ungestört ablaufen könnte und niemand sich dachte, plötzlich auf sie zu stürzen oder ungebeten hineinzuplatzen. Im Prinzip also so eine Gelegenheit wie jetzt. Sie bezweifelte stark, dass sich noch Andere in das Eiswasser wagen würden oder überhaupt Lust auf Rumplantschen hatten. Viele von ihnen hatten wirklich an diesem Kaff gehangen und heulten sich gerade wohl gegenseitig vor, wie schlimm das doch alles ist und dass sie nun auf jeden Fall alles tun würden, um ihre geliebten Schatzis und Hasimausis wiederzufinden und/oder zu retten.
Sie war wieder bei seinem Oberkörper angekommen und befreite diesen nun gezielt, fast schon massierend von jeglichen noch vorhandenen Spuren von dem Kampf oder was auch immer er getan hatte, um sie zu bekommen. Es interessierte sie eigentlich gar...
Eigentlich wollte sie es schon wissen, auch wenn es gegen ihr Prinzip verstieß, Leute nicht mehr als nötig kennenzulernen. Es interessierte sie, weil er so mitgenommen davon ausgesehen hatte.
Wie damals auf dem Dach. Es war eine sehr dumpfe Erinnerung, lange nicht so prägnant wie der Klang seines Namens oder der Rubicon Mango, aber doch noch da. Er hatte damals für einen Moment genauso einen merkwürdig leeren Gesichtsausdruck gehabt, als er ihrem kindlichen Ich erzählt hatte, dass seine Familie und Freunde weg waren. Er nicht wusste, wo sie waren. Anscheinend hatte er sie von vornherein angelogen oder hatte sie später doch noch gefunden... mit ernüchterndem Ergebnis.
Dass er allein in Shengs Hope war und auch nicht besonders dicke mit den Anderen schien genug zu sagen. Und doch spürte die Latina den Drang, ihn danach zu fragen, was aus ihnen geworden war, wie es ihm damit ging... einfach...mehr über ihn zu erfahren.
Ihre Wascheinlage kam kurz vor der Vollendung der Gesichtspartie abrupt zum Erliegen. Die Hände seinen Wangen lösten sich ebenso schnell wie Léo sich erhob.
"Die Wellnessrunde ist vorbei. Komm, alter Sack...“
Ohne Vorwarnung packte sie ihm am Bart und zog ihn hinter sich her zurück zum Ufer.
Es war überhaupt nicht gut. Sie musste den letzten Teil ganz schnell vergessen. Es brachte überhaupt nichts, Leute über ihre Vergangenheit und Gefühlswelt auszufragen. Jeder, der noch da war, hatte eine ganz schlimme Vergangenheit und war innen total kaputt.
Hju protestierte vehement gegen die Art seines Transports, also ließ sie ihn los und stapfte alleine voran.
Das Einzige, was so ein Austausch bringen würde, war Anhänglichkeit und das war der erste Schritt in die Verdammnis.
Sie packte sich ihre Stiefel und Kleidung, die in einer Linie über dem Strand verteilt lagen, ehe sie sich zum Lagerfeuer aufmachte. Die Blicke, die sie dort für ihren weiterhin nur von wasser bedeckten Körper bekam, waren ihr sowas von Schnuppe. Jegor, der im Scherz anerkennend pfiff, kassierte einen ihrer Reitsiefel im Gesicht.
Trotzdem konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie nach zwei Handtüchern griff. Der Russe war in Ordnung.
Sie wickelte sich ein, als gerade der schon wieder halbangezogene Lancaster antrat.
"Danke, Léo.“, sagte er nur.
Ein Schnaufen und ein Handtuch gegen die Brust gedrückt waren die Antwort.
Die Reaktion nicht abwartend verkrümelte sich Léo zu Álvaro und den dort Sitzenden. Mit dem Rücken zum Feuer, den Blick wieder zum Mond über der Bucht gerichtet, schlang sie ihre Arme um die eingewickelten Beine und versuchte einen Gedanken zu vertreiben:
Dass ihr hier wohl einige Leute doch wichtiger waren, als sie es gerne hätte.