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Ehrengarde
Léo hatte immer geglaubt, es würde ihr leicht fallen, einen angemessenen Tod zu sterben. Und dieser hier war mehr als angemessen, er war geradezu würdevoll. Seeker war mit Abstand die beste Kämpferin, mit der sie seit vielen Jahren die Klingen kreuzen durfte, ihre Position als Oberhaupt eines Kriegerclans war ihr mehr als verständlich geworden. Die Schwarzhaarige Schönheit hatte erwartet, in diesen wohl letzten Augenblicken Frieden mit sich schließen zu können und das Folgende mit offenen Armen und wahrhaftem Mut anzunehmen.
Doch so, wie sie fast küssen konnten, ihre Leiber so eng aneinander, dass sie das Klopfen des anderen Herzens wie ihr eigenes fühlte- da wurde ihr klar, wie sehr sie noch weiterleben wollte. Weiterleben musste. Unnachgiebig, kraftvoll, synchron schlugen beide Herzen mit der eindeutigen Botschaft, dass dies heutzutage schon eine der größten Leistungen war. Dass man das nicht einfach wegwerfen kann.
Was aber konnte man jetzt noch tun, um das Unvermeidliche abzuwenden? Sie hatte einen winzigen Fehler gemacht und würde nun dafür den höchsten Preis bezahlen, wenn nicht-
Ihr schoss ein früherer Gedanke wieder durch den Kopf und ohne zu zögern überwand sie die wenigen Zentimeter zu Seekers Gesicht. Hart presste sie ihre eigenen, blut-und schweißbenetzten Lippen auf die ihres Gegenübers, die völlig perplex ihre Arme fast unmerklich senkte.
Fast. Blitzschnell ergriff Léo die Gunst der Stunde und schlug mit ihrem freigewordenen Waffenarm gegen das Handgelenk der Anführerin, die daraufhin immernoch halb im Schock die Machete fallen ließ. Geschickt wurde ihr Baby von der Latina aufgefangen, während Seeker durch einen schnellen Tritt die Bodenhaftung verlor und rücklings zu Boden ging.
Im nächsten Moment schon war Léo auf ihr und hielt ihr die Sichel gegen die Kehle. Sie musste nur noch einen Millimeter überwinden, dann würde sich der kalte Stahl wie Butter durch die Kehle schneiden und dem Leben einer zweifelsohne großen Anführerin ein Ende setzen.
Doch nun, im Moment ihres Sieges, ihres Triumphes, schien ihr die Klinge zentnerschwer. Irgendetwas war falsch. Nein, das war das falsche Wort. Irgendetwas war anders, fort.
Die ganze Wut, all der Hass waren verpufft, sie sah nicht mehr die Quelle all ihren Übels, eine Puta, die sich an ihren Guapo heranmachte. Sie sah nur noch eine Frau, die sich genauso in dieser Welt zurechtfinden musste und dabei einen fast identischen Weg wie sie selbst eingeschlagen hatte.
Kein Laut war mehr in der Halle zu hören. Einige hatten sich die Hände vors Gesicht geschlagen, andere die ihren griffbereit an der Waffe, sollte das ihrer Meinung nach falsche geschehen.
Seeker sorgfältig im Blick behaltend richtete sich Léo auf. Sie konnte spüren, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Doch das war nicht wichtig.
„Stärke ist nicht nur, einem Feind überlegen zu sein und hunderte Schlachten führen zu können, ohne große Verletzungen davon zu tragen. Stärke ist auch, das Richtige zu tun, selbst wenn es für einen selbst nicht logisch erscheint.
Die Veeinigung unserer Clans macht uns zu einer Familie. Mein Vater war ein großer Mann, ich habe viel von ihm gelernt. Er sagte mir immer, dass die Familie alles sei und man niemals, egal was auch vorfallen mag, sich gegen seine eigene Familie richten soll. Er hat meinen Onkel, seinen eigenen Bruder, erschossen, weil sie einen Streit hatten. Hat sich das nie verziehen. Ich werde seine Fehler nicht wiederholen.“
In hohem Bogen warf sie Sichel und Machete in die andere „Ecke“ der Schlammgrube.
Dann streckte sie der Besiegten die Rechte hin:
„Meine Schwester.“
Geändert von Mephista (24.09.2015 um 18:26 Uhr)
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