Die heiligen Hallen der Vultures waren gruselig. Zugegeben nicht so gruselig wie das Refugium von Floyd-Williams - vielleicht lag das auch mehr am Mann selbst -, doch allemal gruselig.
Sie entschuldigte sich kurzerhand bei Lancaster und Seeker. Zweitere besah sich Eryn einen Moment abschätzend, doch nur kurz darauf schon desinteressiert. Nach dem zwar gekonnt vorgespielten, doch seine Wirkung verfehlt habenden Eindruck, den die Bardame bei ihrer Vorstellung hinterlassen hatte, war das Interesse Seekers an ihrer Person mindestens abgeflacht. Und so hielt sie hier für den Moment nichts mehr. Natürlich war Eryn bereit, etwas für das Wohl der Gruppe zu tun, doch sich mit einem der Wilden abzugeben, mit ihm intim zu werden, wie es das Ritual vermeintlich verlangte; das konnten sie nicht von ihr verlangen. Schlimm genug, dass sie sich selbst als menschliche Ware herabgestuft hatte.
So verließ die 25-Jährige die Scheune des Pray Vulture. Sie machte sich auf in Richtung Norden, den Weg zurück zur Baustelle und damit zur Gruppe, wobei diese so in kleine Mannschaften verteilt zu sein schien, dass es kaum noch eine eigene Feste gab. Nach dem sich streckenden Marsch - ihre Füße schrien noch immer nach Erholung - erreichte sie das provisorische Camp und ließ den Blick schweifen. Mehr unwillkürlich blieb dieser an einem Waldstück im Westen hängen, das lediglich über einen dünnen Pfad zu erreichen war. Es sah fast aus, als würde dort eine Art Kapelle stehen. Sie war zu neugierig, blickte sich weiter um. Ihre Mitreisenden schienen entweder geistig wie physisch abwesend oder aber mit etwas anderem beschäftigt. Eryn sah jedoch Howard und Will zusammen sitzen. Sie verringerte die Distanz.
"Störe ich?", fragte sie. Es war der alte Mann, der zuerst den Kopf schüttelte, fast etwas gedankenverloren. Auch Will ließ ein Kopfschütteln folgen, wiederum begleitet von einem leisen "Nein!" An den jungen der beiden Mediziner wandte Eryn sich schließlich auch. "Da hinten" - sie deutete mit dem ausgestreckten Arm in Richtung des Waldstücks und der Kapelle - "... scheint etwas zu sein. Ich dachte, man sollte vielleicht mal nachgucken, wer oder was da ist. Immerhin wollen wir nicht plötzlich überrascht werden...". Will nickte nur stumm, doch äußerte sich nicht weiter. Offenbar brauchte er Nachschub. "Ich möchte gucken!", fuhr sie fort. "Aber ich dachte mir, dass es vielleicht besser ist, nicht alleine zu gehen!" Wieder nickte er. "Ja, klingt sinnvoll." Jetzt blickte er sie fast fragend an, nahm die Brille ab - wohl zum Putzen - und kniff die Augen etwas zusammen. "Möchtest du mitkommen?", fragte sie eindringlich und endgültig. Urplötzlich schien der Geistesblitz den Doc zu ereilen. "Uh... emm... ja, natürlich", ließ er sie wissen. Erklärend warf Eryn hinterher: "Ich weiß - wir sind beide nicht sonderlich wehrhaft. Aber unser Trip zu den Rednecks hat auch funktioniert. Und in Begleitung eines Mediziners fühle ich mich doch wohler..."
Schon kurz darauf hatten sie Howard mit seinen Gedanken vorerst allein gelassen. Den Pfad vorsichtig und so aufmerksam wie möglich entlang stapfend machten Will und die Barfrau sich auf, das Geheimnis um die Kapelle zaufzulösen. Als die langsam peinlich werdende Stille drohte, den langen Weg dorthin unangenehm zu machen, erbarmte sich die geübte Smalltalkerin: "Die Vultures sind übrigens ziemlich seltsame Gestalten. Und ihre Riten... naja. Sie verlangen alles mögliche, damit sie sich mit uns verbünden, um gemeinschaftlich die anderen... äh, die... Bastards anzugreifen. Ich bin mir da echt nicht so sicher. Aber ich bin mir noch unsicherer, ob die anderen besser sind als die Wilden. Wahrscheinlich wird man einfach so, wenn man... hier lebt. Keine Ahnung. Irgendwie müssen wir ja an die Batterien kommen." Sie grinste in Richtung des jungen Arztes. "Was tut man nicht alles, um die Welt zu retten, häh? Ich meine... ich hab in Sheng's Hope ja eh niemanden, aber du: Dein Vater ist bestimmt stolz auf dich, oder?"
Sie sah ihn an. Für ein paar Momente blieb er still. Sie ging schon davon aus, er wollte gar nicht mehr antworten, doch dann räusperte er sich. "Ich bin mir nicht so sicher, ob Henry stolz auf mich ist", fing er an, mehr abwägend. "Falsches Thema?", hakte sie ein, bevor sich der junge Arzt noch weitere Umstände machen musste. "Ich weiß nicht mehr so viel von früher... aber ich weiß, dass ich auch nicht gerne über meinen Vater gesprochen habe!"
Sie lenkte um. Will schien wirklich nicht von der Beziehung zwischen ihm und seinem Vater reden zu wollen. Zweifelsohne musste Henry seinem Sohn viel beigebracht haben, aber zusammen gesehen hatte Eryn die beiden nie, lag nicht gerade ein Notfall vor. Ohnehin schien der Alte ihr immer extrem scheu. Das würde erklären, warum es auch bei seinem Sohn nicht zu einem extrovertierten Wesen gereicht hatte. "Das lag in erster Linie daran, dass ich ihn nicht kannte. Ich weiß bis heute nicht wieso, aber... er war einfach nicht da. Kurz vor dem großen Zehren bin ich los, um ihn zu besuchen... aber dazu kam es dann nicht mehr."
Für einen Moment meinte sie den Hauch von Mitleid im Gesicht ihres Begleiters sehen zu können. Eine Reaktion, die sie schon das ein oder andere Mal bekommen hatte, wenn sie die wenigen verbliebenen Erinnerungen mal teilte. Sie verstand nie ganz, wieso. "Nicht, dass das schlimm wäre. Ich meine - als kleines Mädchen wollte ich unbedingt wissen, wer mein Dad ist, aber... das wurde dann sehr unwichtig. Man hatte halt anderes zu tun. Und eigentlich bin ich ganz froh darüber, dass das alles so ist wie es ist. Ich musste nie mit ansehen wie mein Vater starb. Oder meine Mutter. Mein Bruder. Ich habe sie einfach... irgendwann nicht mehr gesehen. Das habe ich vielen voraus. Das hört sich kalt an, aber... allein zu sein - also: Ohne Leute zu leben, die wirklich auf Augenhöhe mit mir sind -... das hat für mich immer gut funktioniert."
Sie öffnete den Mund, um weitere Worte zu sagen, doch bemerkte dann, dass der Boden unter ihr langsam weniger aus Dreck und Staub, dafür mehr aus Erde und in Relation fast gesundem Gras bestand. Vor den beiden waren die Bäume größer geworden, sie näherten sich dem Wald auf der kleinen Insel. Eryn schenkte ihre Aufmerksamkeit Will. "Wir sollten vorsichtig sein. Und leise. Das kannst du ja ganz gut!" Sie zwinkerte dem ruhigen Doktor grinsend zu, ihn neckend. Ein kleines Stück vor ihm gehend, achtete sie nun noch sorgfältiger auf mögliche Bewegungen und sonstige Besonderheiten in der nicht mehr weit vor ihnen liegenden Baumansammlung. Nebenbei achtete sie vor allem auf den Boden, nicht direkt unter ihnen, sondern vor allem seitlich, auch in der Nähe des sich inzwischen in die Höhe reckenden Kirchgebäudes. Zu begutachten, ob und - wenn ja - was hier angebaut wurde, würde ihr womöglich Rückschlüsse darauf erlauben, ob sie jemanden zu erwarten hatten. Will schien währenddessen, genauer unter die Lupe zu nehmen, ob an kleineren Landmarks wie Bäumen irgendwelche geritzten oder sonstwie dargestellten Hinweise, Nachrichten oder anderweitige Zeichen zu erkennen waren.