Ja klar, der Schwanz. Dieser scheiß Schwanz.
Das war der erste Gedanke, der Evi durch den Kopf ging, als sie auf dem Sand aufschlug. Der Alligator fauchte wie jene zur Paarungszeit - sie konnte seine Zähne aus dem Oberkiefer der flachen Schnauze ragen sehen - und hielt auf sie zu. Sie brauchte den Pflock, unbedingt, und zwar sofort. Man ahnte gar nicht, wie schnell diese Viecher sein konnten.
Die Taucherin rappelte sich auf und entdeckte das lebensrettende Stück Holz ein paar Meter entfernt. Vermutlich hatte sie es nicht nur fallen gelassen, sondern durch den Schlag regelrecht weggeworfen. Na toll.

Der Alligator stampfte aggressiv auf sie zu und Evi musste mit einem Sprung ausweichen - fast erwischte sie der peitschende Schweif wieder, aber diesmal hatte sie ihn fest mit eingerechnet. Trotzdem lag sie nun wieder am Boden und hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Das Reptil klackerte mit dem Kiefer, als würde es sie auslachen und steuerte erneut auf sie zu. Es half nichts, sie war zu langsam, so konnte es nicht weitergehen.
So schnell sie konnte zog die Taucherin einen ihrer Stiefel halb von ihrem Fuß, so dass er nur noch mit dem Schaft eher lose daran hing, und reckte ihr Bein in die Höhe des Alligator-Maules. Es war dumm, es war riskant, aber auf wahnwitzige Art auch ihre einzig rettende Idee. Das Tier wollte zuschnappen, und man konnte eigentlich kaum schnell genug sein, um ein Körperteil von einem beißenden Alligator wegzuziehen, aber dieser kleine Vorteil eines Schugröße 42-Abstandes hatte den Unterschied gemacht. Sobald das Ungetüm zugebissen hatte, sprang Evi auf und rannte so schnell sie konnte zu der Stelle, wo der Holzpflock lag. Sie wusste, dass sie es mit keinem dummen Gegner zu tun hatte, der tatsächlich an einem Schuh herumkauen würde - das hier hatte ihr bestenfalls ein paar Sekunden verschafft. Und nun hatte sie den Feind im Rücken und konnte nicht mehr abschätzen, wie nahe er ihr wirklich war. Deshalb lief die Taucherin über die letzte Distanz nicht mehr, sondern stürzte sich auf den Boden und schlitterte quasi auf dem Bauch auf die rettende Waffe zu. Sie schnappte sich den Pflock sobald ihre Finger ihn berührten, drehte sich auf den Rücken und sah den Alligator auf sich zupoltern. Ihr blieb genau ein Moment, um eine Entscheidung zu treffen. Und sie wählte den direkten Weg, richtete sich auf, so dass sie kniete und stieß ihren Arm in die Richtung, aus der das Reptil angerannt kam.

Den Hals hatte sie nicht getroffen, das konnte sie schon einmal deutlich feststellen. Aber das Maul vor ihr zuckte ein wenig, bevor es ganz still stand, und von Evis Arm rann eine warme, dunkle Flüssigkeit.
Irgendwie hatte sie es tatsächlich geschafft, sich gerade so weit zur Seite zu beugen, um nicht von spitzen Zähnen auseinandergerissen zu werden. An ihrem rechten Oberarm hatte sie drei lange, aber nicht tiefe Kratzer, das war alles. Und dem Alligator steckte ein Holzpflock im Auge, so tief, dass nur noch die Lederumwickelung zu sehen war. Das war Glück - der Alligator hatte durch seine eigene Geschwindigkeit wahrscheinlich dazu beigetragen, dass dies hier tödlich für ihn geendet hatte. Ein Piekser ins Auge hätte ihn sonst wohl nicht sofort außer Gefecht gesetzt.
Jetzt, wo es vorbei war, spürte Evi ein Zittern, das plötzlich ihren ganzen Körper zu beherrschen schien. Sie konnte das Maul, die Schuppen und die Pranken jetzt aus nächster Nähe sehen und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was hatte sie sich dabei gedacht? Das hätte wer weiß wie enden können. Hat es aber nicht., dachte sie kurz, und der Anflug eines Lächelns huschte ihr übers Gesicht.

Probe Evi: Gruppe Stärke: Bestanden! (erleichtert!)

Nachdem sie mit zittrigen Händen den Pflock aus dem Tier gezogen hatte, machte sie sich auf den Weg zurück zu den beiden Vultures, die wohl alles beobachtet hatten. Es war gar nicht so einfach, schließlich fühlten sich ihre Beine wie Butter an. Als sie aber das Grinsen von Voodoo und die großen Augen von Nagelohr sah, riss sie sich zusammen und lächelte die zwei an, als würde sie sich nicht danach sehnen, dass irgendjemand sie tragen würde.
"Hier." sie streckte Voodoo den Pflock entgegen, der das Blut des Alligators schon fast eingesaugt hatte und nun in der Sonne rötlich glänzte. Eigentlich sah er ziemlich eingesaut aus. "Vielen Dank, das hat mir gute Dienste geleistet." Der Mann schüttelte den Kopf. "Trag es zu unserem Clan, zeige ihnen das Blut, schwenke die Trophäe über deinem Kopf." Er strahlte sie an. "Okay." Die Taucherin nickte, bezweifelte gleichzeitig aber, dass sie an diesem Tag noch irgendetwas über ihrem Kopf halten konnte. Sie fühlte sich immer noch schwach, als hätte sie sämtliche Energien verbraucht.

Als die drei sich auf den Rückweg machten, ging Voodoo stolzen Schrittes voran - vor allem weil Evi ein etwas langsameres Tempo anschlug. Nagelohr hielt allerdings mit ihr Schritt. "Das war... wow.", sagte er etwas verhalten, als wüsste er nicht, ob er sie ansprechen durfte. "Voodoo wusste offenbar gleich, was in dir steckt, als er dir das Auge der Vultures gegeben hat." "Das Auge der Vultures?" Er deutete auf ihren Rücken. "Ich kenne keinen, der kein Vulture war, und es bekommen hat." Ja, es hatte sich besonders angefühlt. Als wäre sie plötzlich ein Teil des Ganzen geworden. Akzeptiert von einem Clan, in dem Stärke und Mut größte Tugenden waren. Und obwohl sie sich ausgelaugt fühlte, sich dringend ausruhen und auf jeden Fall endlich waschen wollte, breitete sich ein wohliges, warmes Gefühl in ihrem Bauch aus. So gut hatte sie sich seit dem Start dieser Reise nicht gefühlt. Auch wenn sie jetzt neue Schuhe brauchte. Zumindest einen.