Es war ein wahres Festmahl. Evi langte kräftig zu, weil der lange Tag sie geschlaucht hatte, und ihr gleichzeitig bewusst war, dass es so einen Schmaus nun lange nicht mehr für sie geben würde. Während sie munter vor sich hin kaute nahm sie wahr, wie Lancaster dieses Motorrad von der waschlappigen Georgina bekommen hatte, um damit die Gruppe anzuführen und Adam sicher an sein Ziel zu bringen. Sie war froh, dass er diese Aufgabe erhalten hatte, weil er ja auch ihr Wunschkandidat gewesen war. Mit all seiner Erfahrung, Ernsthaftigkeit und dem... Bart. Ob er der bärtige Kerl gewesen war, der auf der Obstfarm sein Unwesen getrieben hatte? Nun, es würde vermutlich genug Gelegenheiten geben, ihn auf der Reise zu fragen.

Von irgendwo in der Nähe des Grills erklang ganz sanft eine Melodie - simpel, aber auch melancholisch. Das seltsam rührseelige Gefühl, das durch die Ablenkung des Essens eine Weile lang Ruhe gegeben hatte, kehrte damit zurück.
Als schließlich Eryn einen Platz mit Fackeln absteckte, und einfach im friedlichen Knistern des Feuers zu tanzen anfing, war es nicht mehr auszuhalten. Obwohl zahlreiche Bewunderer die grazilen Bewegungen der Barfrau verfolgten, fühlte es sich nicht nach einer Show an. Es war irgendwie mehr als das. Ob ihr das nun bewusst war oder nicht, es wirkte als würden die Herzen der Zuseher mit ihren Füßen im Takt tanzen.

Auch Sheng sah Eryn vom Rande des Geschehens aus zu. Sein Blick war unergründlich, aber Evi war sich sicher, dass auch er die Stimmung dieses Abends deutlich spürte. Vielleicht sogar mehr als sie, weil er schon bald nichts mehr tun können würde, um etwas am Schicksal von Adam und an dem von ihnen allen zu ändern. Und er würde nicht mehr auf Haile aufpassen können.
Eigentlich war nun der perfekte, und wahrscheinlich einzige Moment, noch einmal mit ihm zu reden. Bevor Evi das Herz übergehen würde vor Sehnsucht nach diesem Zuhause, das sie noch nicht einmal verlassen hatte. Und bevor etwas oder jemand sie aufhalten konnte. Sie selbst zum Beispiel.

Der Bürgermeister bemerkte Evi sofort, als sie in seine Richtung kam, und aus irgendeinem Grund erwiderte er ihr Lächeln eher zögernd. Das würde es nicht leichter machen. "Hey. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, um zu sagen, was ich schon angekündigt hatte." Er erwiderte nichts, sah sie aber erwartungsvoll an. Die Taucherin holte also in Gedanken tief Luft und... es kam nichts. Sie wusste, was sie dachte und fühlte, aber wie sagte man so etwas? Womit sollte sie überhaupt anfangen? Dass sie vielleicht nie zurückkommen würde? Ja, das war ein positiver Start in ein Gespräch. Oder dass sie aus völlig heiterem Himmel - wie oft hatten sie schließlich schon wirklich miteinander geredet - etwas Besonderes für ihn sein wollte? Gar nicht anmaßend.
"Ich finde irgendwie nicht... die richtigen Worte.", sagte Evi schließlich entschuldigend, als die Pause schon viel zu lange dauerte. Bald würde der Moment verstrichen sein, bald würde sie der Mut verlassen, bald würde ganz bestimmt irgendjemand aus einem Loch im Boden gehüpft gekommen, und sie wieder unterbrechen... Ach Gott, scheiß auf Worte.
Bevor Sheng etwas erwidern, oder irgendjemand anderes plötzlich hinzukommen konnte, legte Evi ihre Hand an seine Wange und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. Es war eine kurze und schüchterne Berührung, aber für einen kleinen Moment spürte sie seinen sanften Atem und seine warmen Lippen. Und plötzlich war alle Anspannung von ihr abgefallen und neben tausenden kleinen Schmetterlingsflügeln, die in ihrem Bauch schlugen, fühlte sie sich vor allem erleichtert.
"Ich hoffe, damit vergisst du mich nicht, wenn ich weg bin.", sagte sie nun leise. "Also hoffentlich bleibe ich die einzige, die sich so von dir verabschiedet, sonst hat das natürlich sein Ziel verfehlt.", fügte sie verlegen lachend hinzu, um einfach irgendetwas zu sagen, das nicht so ernst und nach Trennungsschmerz klang.
Aber eigentlich war jetzt gar nicht mehr so wichtig, was Sheng eigentlich dachte. Natürlich wollte sie, dass er sie vermisste und dies irgendetwas bedeutete. Aber das Wichtigste war, dass sie alles getan hatte, worauf sie in dieser Nacht Einfluss haben konnte. Sie würde auf diese Reise nicht mit einem Gefühl gehen, etwas unerledigt gelassen zu haben. Sie würde nicht halbherzig kämpfen, weil sie wusste, dass sie nichts bereuen musste. Und sie würde nicht sterben, ohne zu wissen, wie sich ein Kuss anfühlte, der einem den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte.
Es konnte losgehen.