Evi saß neben Sheng und war froh, die Runde so gut überblicken zu können. Es fühlte sich an wie ein großer Moment, vielleicht größer als die Ansprache damals, als Adam gefunden worden war. Einfach, weil sich die Taucherin nun viel persönlicher involviert fühlte. Das hier waren sie - die Seelen, mit denen sie eine große Aufgabe erledigen würde. Mit denen sie lachen und weinen würde, an deren Seite sie kämpfen und vielleicht sterben würde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, aber er war nicht direkt unangenehm. Das Gefühl von leichter Angst wurde einfach völlig von dem Gefühl des Zusammenhaltes, des "gemeinsamen Schicksals" überschattet. Und sie hatte einen Bärenhunger, der ebenfalls nicht zu verachten war. Für Angst war kein Platz.
Als Sheng zu sprechen begann, streifte sie kurz seinen Blick, aber nur so, dass sie auch beiläufig hätte vorbeisehen können. Seit vorhin hatte sie irgendwie ein Problem damit, ihm direkt in die Augen zu blicken.

*Ein paar Stunden zuvor*

"Ich habe Seife, wenn du mit zur mir kommen willst?" Einen Moment lang sah Evi den Bürgermeister verwirrt an. "Seife?" Das war das Wort, was sie erst mehr verwunderte, als der eigentliche Satz. Die Freude über die Rückkehr, und dass alles nun okay schien, hatte die Taucherin völlig vergessen lassen, wie sie eigentlich aussah. Und es war nicht nur das - es war ihr normalerweise auch völlig egal. Mehr noch, nach Ausflügen außerhalb von Shengs Hope trug sie solche Dinge - zerzaustes Haar, Dreck- oder am besten noch Blutflecken - mit Stolz. Das war schließlich der beste Beweis, dass man ein Abenteuer erlebt hatte! Aber jetzt in diesem Moment, als Sheng ihr so einen seltsamen Blick zuwarf, war es ihr plötzlich unangenehm.

"Wir waren immerhin in Little Cadiens, da ist es nun mal sumpfig. Außerdem gab es da auch ein Problem, weil da plötzlich dieser Kerl war...", begann sie hastig zu erklären. Währenddessen ging sie wie selbstverständlich ein paar Schritte in Richtung Ausgang der Bar, als hätten sie bereits abgemacht, dass sie nun gemeinsam zur Bleibe des Bürgermeister gehen würden.
Sheng folgte ihr bis nach draußen, weil er interessiert der Geschichte von dem Kultisten lauschte. Dort kamen sie zum Stehen, weil Evi nun eifrig in ihrem Rucksack herumkramte. "...und er hatte so eine Maske... warte... eine Maske... da!" Sie fischte das groteske Ding heraus und zeigte es Shen, bevor sie munter weitererzählte.
Er schwieg die meiste Zeit, schien gleichzeitig amüsiert, aber auch nachdenklich zu sein. Ohne Frage besorgte ihn die Nachricht über den beinahe unbesiegbaren, fauligen Kultisten, und von den Machenschaften des Cletus-Clans war er vermutlich auch nicht begeistert. Aber er unterbrach Evi nicht, sondern hörte ihr aufmerksam zu und sah ihr dabei in die Augen - vermutlich weil sie das einzige waren, das nicht nach einer Vogelscheuche aussah. Und obwohl sie sicher war, dass es vor allem die Geschehnisse waren, die ihn interessierten, und nicht die Erzählerin, wünschte sie sich doch, dass dieser Moment länger dauern würde als die Erlebnisse hergaben. War dies doch eine der wenigen Gelegenheiten, völlig alleine mit ihm zu sprechen. Endlich auch einmal ein "Geheimnis" mit ihm zu haben, auch wenn das alles natürlich gar keines war. So versank sie noch ein bisschen in seinen Augen, bis sie zum Ende kam.
"Jedenfalls hat es deshalb auch so lange gedauert, und weil wir gleich berichten wollten, hatte ich noch keine Zeit, um wieder ordentlich... ... hast du mich echt gefragt, ob ich zu dir nach Hause komme?"

Erst jetzt war es ihr wieder eingefallen, oder überhaupt aufgefallen. Und Shengs nun roten Wangen nach zu urteilen, erfasste nun auch er vollkommen die Bedeutung seiner unbedachten Worte. Damit war die traute Zweisamkeit natürlich sofort dahin gewesen. Der Bürgermeister erklärte leicht überrumpelt, was er eigentlich gemeint hatte und dann war da diese peinliche Stille gewesen.
Also war Evi alleine in ihre eigene Hütte zurückgekehrt, hatte sich gewaschen und noch etwas ausgeruht, die Maske ein bisschen gesäubert, weil sie als Erinnerung schon ganz cool war, und dann hatte die geplante Abschiedsfeier begonnen.

***

Frank war der Erste, der feierlich das Wort erhob, nachdem sie alle die letzten Informationen zur Reise bekommen hatten.
"...die zurück bleiben müssen und dafür sorgen, dass wir auch eine Heimat haben in die wir zurück kehren können, nachdem wir unsere große Aufgabe erfüllt haben."
Die Stimmung war ein bisschen rührseelig, das merkte man schon. "Darauf müssen wir anstoßen!", sagte Evi nach Franks Ansprache, um die leichte Melancholie zu überlisten, die jetzt über sie kam. Sie brauchte wirklich dringend etwas zu trinken. Und zu essen.
Aber sie hatte auch gehört, was der Wachmann gesagt hatte, und irgendwo tief in ihr klopfte der Gedanke, dass dies wirklich das letzte Mal in dieser "Heimat" sein konnte. Die letzte Gelegenheit, mit denen, die "zurückbleiben", zu sprechen.
Völlig beiläufig räusperte Evi sich und tippte Sheng auf die Schulter, weil sie plötzlich nicht einmal mehr wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. Als er ihr einen fragenden Blick zuwarf, räusperte sie sich noch einmal und sah unsicher in die Runde, ob ihnen auch niemand zuhörte. "Also ich." Pause. Vielleicht kommst du nie wieder zurück. Irgendetwas musst du sagen. Etwas Bedeutsames. Etwas, dass er sich an dich erinnert. Irgendetwas. Damit sich irgendjemand an dich erinnert.
"Ich glaube ich möchte dir noch etwas sagen, bevor wir dann losgehen." Aber gerade als sie den Mut aufgebracht hatte, ihm wieder ordentlich ins Gesicht zu sehen, knurrte plötzlich ihr Magen so laut, dass es vermutlich alle hören konnten. "Äh, nach dem Essen." Sie lachte verlegen und sah sofort in eine völlig andere Richtung. Atmete tief durch.
Okay, erst essen. Dann viel trinken. Und dann würde ihr schon irgendein Mist einfallen, falls sie der Mut doch wieder verlassen würde.