Léo war positiv überrascht, dass es sich bei dem Mann, der sich Jegor nannte, um Jemanden handelte, der wirkliche strategische Erfahrung hatte; im besten Fall auch die behauptete kämpferischen Fähigkeiten besaß. Zudem gefiel ihr sein cabrones-Humor. So gab es zumindest etwas Hoffnung für ihre Unternehmung hier und in Bezug auf Dosen-Adam.
Wie von dem Osteuropäer beschrieben, machte sich das Quartett auf daran, „wie Igel in Wald“ sich langsam dem erhofften Essens- und Munitions- El Dorado zu nähern. Jegor voran, dann Eireen und Hijo de Puta (Niki), Leocadia selbst bildete die Nachhut, die den Rücken im Notfall freihalten würde. Sie war in ihrem Element. Solange sie denken konnte, hatte sie sich zu einer Meisterin im ungesehen von einem Ort zum Anderen entwickelt. Was als Spiel für sie und geniale Geschäftserweiterung für ihren Vater an der Grenze von Tijuana angefangen hatte, wurde nach Sydney zu ihrer Hauptüberlebensstrategie neben schnellen Beinen für viele Jahre. Trotz der mehr als ernsten Lage fühlte sie sich immernoch jedes mal ein wenig, als wäre alles ein großer Spaß.
An ihrem Ziel angekommen, zog die Frau ihre Machete und hielt angespannt Ausschau nach etwaigen Feinden und dass Eireen in Ruhe ihre Arbeit machen konnte. Für Niki würden ein paar Schrammen noch zu gut sein, vielleicht hatte er ja Glück und sprengte sich selbst in die Luft.
Der Typ im Turm war unerträglich, wie er mit seinem selbstherrlichen Grinsen um sich blickte. Wenn das der beste Mann war, der jede Gefahr aus seiner super Position heraus erfassen und eliminieren sollte, hatte es dieses Camp mehr als verdient von ihnen geplündert zu werden. Bedächtig patrouillierten Jegor und sie das die nähere Umgebung, jede kleine Bewegung erfassend und bewertend.
Nach einer Weile blickte Léo zu ihrem Waffenbruder, ihre Blicke trafen sich, und nach kurzem Umschauen hob er die Hand, bei der außer dem mittleren kein Finger ausgestreckt war, und winkte leicht damit. Mit einem Grinsen hauchte sie ihm ein tonloses „•••••••!“ entgegen, ehe sie sich in Richtung des Lebensmittelvorrates und zu Eireen aufmachte.
Auf dem halben Weg sah sie einen offenbar hungrigen Mann um die Ecke kommen, direkt auf Kollisionskurs mit ihrer Kollegin. Die gesamte Aktion war in Gefahr, wenn er Alarm schlug, ganz zu schweigen von der Schönheit, die keine Ahnung von Selbstverteidigung hatte. Mit doppelter Geschwindigkeit, aber immernoch lautlos und geduckt wie ein Jaguar schlich sie sich an und versuchte gleichzeitig den perfekten Angriffspunkt auszumachen.
Plötzlich blieb er stehen, eilig pirschte sie hinter ihn und sah, dass er nur wenige Meter von Eireen entfernt stand, die vor ihrem prall gefüllten Rucksack hockte und einen sichtlichen Schock hatte. Jetzt oder nie....
Mit aller Kraft sprang sie ihn von hinten an, die Überraschung und Wucht warfen ihn vornüber um. Sofort drückte sie sein Gesicht in den Boden, um ihm die Möglichkeit eines Hilferufes unmöglich zu machen, doch dieser Kerl wehrte sich vehement gegen die Behandlung. Mit Armen und Beinen schlug und trat er um sich, um Leocadia zu fassen zu bekommen oder abzuwerfen, doch noch hielt sie ihn angestrengt unten. Ein kurzer Blick in Richtung Bardame verriet ihre, dass diese seelenruhig und mit geschlossenen Augen am selben Platz hockte, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen.
„Meditierst Du grad oder was soll die Scheiße?!“, zischte Léo, „Verpiss Dich endlich von hier!“
Einen Moment später wurde sie von dem Mann umgeworfen, der keuchend und mit dreckverschmiertem Gesicht versuchte, hochzukommen. Ohne Verzögerung stürzte sich die Halbmexikanerin wieder auf ihn, die eine Hand fest über Mund und Nase legend, die andere mit der Machete erhebend. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Eireen endlich aufsprang, den Rucksack schulterte und sich davon machte. Hoffentlich suchte sie dennoch Deckung.
Die Kämpfende jedoch holte mit ihrer Machete aus, zog den Kopf des Mannes zu sich und ließ die Klinge über seine Kehle gleiten. Sofort bildete sich ein Fluss aus Blut, der aus der Wunde floss. Verzweifelt und mit schwindenden Kräften wand sich der Hüne, doch Léos Griff war eisern und lockerte sich erst, als seine Bewegung zum Erliegen kamen.
Schwer atmend ließ sie von ihm ab und sah sich um. Soweit hatte sie hoffentlich keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, zumindest war nirgends Jemand auszumachen. Skeptisch betrachtete sie den leblosen Körper unter sich. Über Nahrungsmangel konnte er nie geklagt haben, verfügte er doch über beachtliche Muskeln. Gerade sein Bizeps war enorm. Ein leises Knurren war zu vernehmen. Es kam aus Léos Magengegend. Hunger. Und was die anderen nicht wussten, würde sie auch nicht heiß machen.
Es war fast zu schade, dass sie ihn nicht komplett mitnehmen konnte, aber das wäre weder logistisch noch logisch möglich gewesen. Doch diesen Bizeps musste sie einfach probieren. Kurzum setzte sie die Machete erneut an und wenige Hiebe später hielt sie einen stattlichen linken Arm in Händen, den sie behutsam in das Hemd des Toten einwickelte, damit er nicht alles vollblutete. Eilig verstaute sie ihn in Álvaro und stellte sicher, dass noch Platz für weitere Vorräte für die Gruppe vorhanden war.
Die Nüsse sahen unglaublich gut aus und ihr Magen meldete sich erneut unwirsch. Es würde sicher kein Problem sein, ein paar Sekunden dafür zu Opfern, ihren Körper ruhig zu stellen, nicht, dass der sie am Ende noch auffliegen ließ. Mit gieriger Hand griff sie in den Berg aus Nährstoffbomben und stopfte sich einige in den Mund. Es war ein Jammer, dass sie die Nüsse so herunterschlingen musste, sie waren absolut köstlich. Dabei machte Lèo den entscheidenden Fehler, gegen eine der wichtigsten Regeln hier zu verstoßen: Sei immer auf der Hut.
Gerade wollte sie beginnen, Álvaro bis zum Rand mit Nüssen abzufüllen, als ein atemberaubender Schmerz durch ihre Schulter fuhr und ihr den Halt nahm sowie die Gerade noch konnte sie sich mit den Händen abstützen, da spürte sie schon scharfes Metall gegen ihren Nacken drücken.
„Wen haben wir denn da?“ Die Stimme war rauchig und klang zugleich amüsiert und drohend.