Ihre Finger fuhren langsam die verblassten, eingebrannten Buchstaben an der Seite des Schiffes entlang. Sie würde keine Zeit haben. Zumindest nicht viel. Genau so wenig Zeit, wie die Besitzer dieses Schiffes, die es offensichtlich schon mit Vorräten und Proviant beladen hatten. Heute war nicht mehr viel davon zu sehen - nur noch wenige Reste des Essens schienen überhaupt genießbar. Aber das war auch egal. Dieser Geruch. So süß. So schwer. So unwiderstehlich. Haile warf einen letzten Blick auf die Gereinigten, die in den Netzen unter dem Schiff vor sich hindümpelten.
"..."
Flink kletterte sie auf die "Heather" und ließ die Konservendosen links liegen. Es trieb sie tiefer in den Bauch der Yacht. Es ging eine wackelige Treppe hinunter. Dort fand sie die Quelle des Duftes: Kleine Glasflaschen, schön drapiert und mit bunten Flüssigkeiten gefüllt. Eine davon war zerbrochen und verströmte ihr Aroma. Was war das? So etwas intensives hatte Haile noch nie gerochen. Der Flakon hatte einst anscheinend die Form einer Katze, aber mehr konnte sie nicht erkennen. Aber dafür zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Ein Spiegel.
Ein wunderschöner Handspiegel, mit einem Griff aus Metall, mit Verzierungen um die glänzende Fläche herum. Himmel, sah ich schon immer so scheisse aus?
Einige ihrer Zöpfe hatten sich im Laufe des Tages gelöst, und zum ersten Mal konnte sie einen unverstellten Blick auf ihre Schulter werfen. Die schwarze Wunde sah viel schlimmer aus, als sie es gedacht hätte und was war eigentlich mit diesen schwarzen...
"!!!"
Ein Ruck ging durch die "Heather". Unter dem Schiff rumorte es, und wenn man darauf achtete, wurde die Schieflage noch etwas schlimmer. Haile riss ihren Blick von dem Spiegel weg und rannte an Deck. Japp. This ship is going down. Jetzt ging es weniger um Finesse, sondern um Schnelligkeit. Sie sprang auf den Holzsteg, der ebenfalls bereits gefährlich wankte.
So schnell sie ihre Füße trugen, hastete Haile von einer Holzstrebe zur nächsten. Das ganze Konstrukt stürzte unter ihr zusammen, und hinter ihr hieften sich die lebenden Leichen aus dem Wasser. Der Steg vor ihr war schon fast komplett eingebrochen, und von links und rechts schoben sich Gereinigte auf die kläglichen Überreste der Holzkonstruktion. Haile holte tief Luft und drückte sich mit all ihrer Kraft vom letzten Stück des Stegs ab und sprang.
Es war, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Unter ihr die Untoten, vor ihr das überwucherte Ufer und das Gewicht des Spiegels fest in ihrer Hand. Ihre Füße berührten das schilfige Gewächs, als es geschah. Sie rutschte aus und fiel rückwärts zurück ins Wasser, direkt in die gierigen Arme der Gereinigten. Ein Schicksal, für das zahlreiche Kultisten getötet hätte. Nicht so. Die Dunkelheit der See umfing Haile wie ein Mantel, sie spürte die Kratzer, die Arme und Beine um sich herum. So nicht.
Mit all ihrer Willenskraft stieß Haile ihre Arme nach hinten und köpfte damit einen der nassen Zombies glatt. Oh. Wasser tut denen nicht gut.. Aufgeweichte, tote Haut, Hände, Kiefer - die Untoten hatten Haile wenig entgegenzusetzen. Sie waren im Wortsinne eingeweicht von ihrem jahrzehntelangen Bad. Aber noch war es nicht überstanden. Sie bekam ein altes Tau zu fassen und zog sich damit wieder über Wasser. Ihre Beine traten nach wie vor unkoordiniert nach den Gereinigten unter Wasser. Langsam, mühsam, sanken alle Untoten zum Boden des Ufers und bildeten damit ein Bett, aus welchem Haile sich ans Ufer ziehen konnte.
Mit letztem Atem, durchnässt, zerkratzt, aber glücklich ließ Haile sich auf den überwuchertern Boden fallen. Sie war voller Schilf und Moos, ihre Haare ein einziges Nest aus feuchten Strähnen und ihr Kleid noch zerfetzter als zuvor, ihre Kohlezeichnungen im Gesicht verlaufen. Sie ließ den Spiegel sinken, seufzte tief und machte sich dann zurück auf den Weg zu Leo.