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Ritter
Andrea hatte die ganze Nacht lang kaum ein Auge zugetan. Sie war immer mit einem ruhigen, tiefen Schlaf gesegnet gewesen, aber heute Nacht... heute Nacht war es einfach nicht möglich gewesen, zu schlafen. Nicht bei dem, was im Augenblick in Shengs Hope vor sich ging. Surreal war es im ersten Moment gewesen, mit bloßen Gedanken nicht zu fassen. Und dann war irgendwann die Erkenntnis durchgesickert, dass, ja, in der Tat, eine Hoffnung bestand, die Zombieplage zu bekämpfen. Wie Celina ihr es vor so vielen Jahren erzählt hatte.
Andrea war nun schon einige Jahre hier und hatte sich langsam damit abgefunden, einem ruhigeren Leben nachzugehen. Sie hatte ihre alten Reisegefährten immer seltener und schließlich so gut wie gar nicht mehr auf Raubzügen begleitet. Sie hatte diverse Pflanzen angebaut, sie verkauft, genutzt, was Lee ihr beigebracht hatte, um ärztliche Hilfe zu leisten, und war somit gut über die Runden gekommen. Und ihretwegen hätte es auch so bleiben können. Bis zu diesem Moment.
Andrea hatte nie das Bedürfnis gehabt, eine Heldin zu sein, hatte nie daran geglaubt, etwas tun zu können, um die Welt zu verändern oder gar zu verbessern. Sie war pragmatisch gewesen, hatte sich immer den Umständen angepasst und sie so genutzt, wie es notwendig war, um selbst nicht auf der Strecke zu bleiben. Sie hatte harte Zeiten überstanden, viele gute Erfahrungen gemacht und viele bittere, aber all das hatte sie stärker gemacht und sie bereute nichts in ihrem Leben. Nun, fast nichts. Es gab diese eine Sache, die sie immer wieder heimsuchte, die immer wieder an ihr zu fressen begann, wenn sie gerade glaubte, ihren Frieden damit geschlossen zu haben.
Isabelle.
Ein Kind, dass sie geboren, aber nie gekannt hatte. Das sie aus Angst zurückgelassen hatte. Und das keine zwanzig Jahre später dann auf der Suche nach ihr umgekommen war. Ertrunken, so hatte man ihr gesagt. Den Zombies war sie entkommen, aber nicht dem gottverdammten Wasser. Hatte es einfach nicht mehr zu den Rettungsbooten geschafft. Aber am Ende war es egal, wie genau das Mädchen gestorben war, denn wie Andrea es auch drehte und wendete, es war ihre Schuld. Es war ihre Schuld, dass Isabelle in Sydney gewesen war, in einem Brennpunkt während der Apokalypse, auf der Suche nach ihrer Mutter. Hätte sie sich nur dazu durchgerungen, einmal, nur ein einziges Mal Kontakt zu ihrer Tochter aufzunehmen, wäre sie ihr nicht gefolgt und würde heute vielleicht noch leben. Oder wäre wenigstens erwachsen geworden. Siebzehn Jahre war kein Alter, um zu sterben. Für niemanden.
Und das war der Grund, weshalb sie beschlossen hatte, sich aus der Bequemlichkeit ihres Lebensabends in Shengs Hope zurückzuziehen und nun ihre Hilfe zu leisten. Damit es keine weiteren Isabelles geben würde. Damit in weiteren zwanzig Jahren die Menschheit auf die Zeit mit den Zombies zurückblicken würde, wie sie es heute auf das beginnende 21. Jahrhundert tat. Ein Teil der Geschichte, unwirklich und mystisch. Zombies gehörten nur in Geschichten.
Es überraschte Andrea nicht, dass das Dorf in Aufruhr war, dass jeder etwas zur Vorbereitung tat, dass laut und aufgeregt geredet wurde. Und irgendwie steckte diese Lebhaftigkeit sie an, irgendwie verspürte sie das Bedürfnis, sich anzuschließen. Irgendetwas zu tun. Und sie war sicher, dass es da einiges gab. Gerade außerhalb von Shengs Hope gab es noch einige Stellen, die man nach Vorräten, Munition und sonstigen Nützlichkeiten durchsuchen konnte.
"Hey", sprach sie, als sie vor dem "Dusty Derrecks" zum Stehen kam, die nächstbeste unbeschäftigt aussehende Person an. In diesem Fall handelte es sich um Evi. "Weißt du, ob sich schon jemand in Little Cadiens umgesehen hat?" Die kleine, verlassene Siedlung würde sicher noch einige kleinen Schätze zu bieten haben. Andrea war nicht unbedingt angetan von der Vorstellung, durch den Sumpf zu marschieren, aber wenn sie jetzt auf einmal anfing, zimperlich zu sein, sollte sie am besten jegliche Pläne, eine Hilfe zu sein, begraben, und hoffen, dass ihr jemand aus irgendwelchen Ruinen einen dieser lächerlichen Rollatoren mitbringen würde, vor der Apokalypse auf einmal alle alternden Frauen rumgelaufen waren. Nein, sie würde nicht ausgerechnet jetzt anfangen, wählerisch zu sein.
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