Seitdem die Menschen sich am frühen Morgen zerstreut hatten und eine Wache der besten Scvanger am Sarg zurückgeblieben waren, hatte Sheng keine Sekunde geschlafen.
Er wusste nicht, wie lange er auf seinem Bett, der engen, kleinen Metallkoje, gesessen hatte und einfach nur Löcher in die Luft gestarrt hatte.
Er hatte den Geruch des brennenden Shengs Hope in der Nase gehabt und sah wieder und wieder die Menschen vor sich, die sie im Laufe der Zeit verloren hatten. Er hätte alles dafür gegeben, mit Lexi über die Vergangenheit oder mit... jemand anders... über die Zukunft sprechen zu können, doch er war allein im Moment. Unfähig, sich zu bewegen.
Und nun konnte sich alles ändern.
Er hatte über die Jahre vergessen, mitzuzählen, wann der Tag kommen würde und hätte er gewusst, dass es heute passieren würde, wäre er nicht in der Taverne gewesen. Er wäre vorbereiteter gewesen.
Doch dann hätte er auch nicht Evi getroffen, sich nicht zum ersten Mal so undienstlich mit Frank unterhalten, Jegor nicht beim Kämpfen zugesehen.
Vielleicht war es Schicksal, DASS er in der Bar gewesen war und zum ersten Mal seit langem wieder die Menschen in den Ressourcen der Siedlung gesehen hatte, um zu wissen, wofür sie eigentlich überlebten. Und um zu wissen, dass "Adam" in den Händen dieser Truppe bestens aufgehoben war.
Als die Sonne schließlich seine Kajüte erleichtete, seine eigenen, metallernen vier Wände, schauderte es ihn vor Kälte, die eindeutig durch den Schlafentzug kam und sämtliche Gelenke knackten, als er aufstand.
Vor der Tür sah er Haile und sein Herz krampfte sich zusammen. Hätte er nur einen Grund gebraucht, die Welt verbessern zu wollen, damit kein Kind erleben musste, was das Mächen hatte erleben müssen, hätte sich die Reise für ihn schon gelohnt.
Als sie nach seiner Hand griff, lächelte er so frei wie schon lange nicht mehr.
Sie hatte schon viel mit seiner Hand getan, seitdem sie sich getroffen hatten. Danach geschnappt, danach gestochen, danach geschlagen, mit Kohle seltsame Zeichen darauf gemalt und dann energisch genickt. Doch sie hatte noch nie nach seiner Hand gegriffen. Für Sheng war es einer der glücklichsten und seltsamsten Momente seines Lebens.
Als sie schließlich vor der Bar ankamen, die noch immer geschlossen war, da Niemand seit geraumer Zeit Derreck, den Besitzer, gesehen hatte, stand die Sonne schon fast auf zehn Uhr morgens.
Er blickte sich um und sah in die Gesichter der Freiwilligen, die ihn anlächelten, in denen Vorfreude zu sehen war, aber auch Skepsis und Unsicherheit.
Haile mit ihren scharfen jungen Augen machte ihn und andere auf einen Lichtreflex aufmerksam, den er sich ebenfalls sorgsam einprägte. Wieder kam ein eigentlich unpassender Vaterstolz durch.
Dann kam Sara angehumpelt und gab Wingman, der nervös trippelnd neben Sheng stand, ein Stück Papiert. Der ehemalige Pilot, dessen Blick immer wieder hilfesuchend in Richtung Frank glitt, faltete das Blatt Papier auf welches eine größere Karte der Umgebung zeigte. Sara musste die halbe Nacht daran gesessen haben und entsprechend müde doch zufrieden sah sie aus.
Die Reisenden sahen eine Karte der Umgebung. Darauf waren Orte eingezeichnet und Flächen schraffiert.
"Ihr Mutigsten von Shengs Hope.", strahlte der Asiate in die Runde. "Danke für euer Kommen. In diesem Moment kümmern sich Shaun und Steve darum, einen alten Karren von Sara fertig zu machen. Egal was wir davor spannen, des sollte mit dem Karren und dem Sarg fertig werden." Er schien kurz nachzudenken und man konnte erkennen, wie er Wingman anblickte und dieser leicht erbleichend den Kopf schüttelte.
"Ich will, Nein, muss, ehrlich zu euch sein. Die meisten Einwohner von Shengs Hope haben bereits alles gespendet was sie erübrigen konnten, doch es fehlt noch immer an Munition und Nahrung. Da wir nicht genau wissen, wie die Welt da draußen aussieht, müssen wir euch entsprechend ausrüsten. Ihr alle wisst, dass es selbst in unserer nächsten Umgebung Orte gibt, die wir gemeinhin meiden. Riviera Beach, den Bootsverleih im Norden, Little Cadiens. Diese Orte sind bestimmt nicht schöner und sicherer geworden. Aber wenn wir noch irgendwo Munition oder Nahrung finden können, dann dort.
Wir sollten außerdem einige Gefallen einfordern und die Leute in der Siedlung, die noch immer horten, ins Gewissen reden."
Er blickte jeden einzelnen ernst an.
"Wir werden uns alle Zeit der Welt nehmen, euch ausreichend auszurüsten. Ihr werdet erst gehen, sobald ihr alles habt was ihr braucht. Dazu werden wir auch einige Gefallen einfordern, beispielsweise bei Cletus und seiner ungewaschenen Bande an Rotzgören.Und wir sollten uns zudem unbedingt noch einmal den Bunker von Toske ansehen, der Ort, an dem ich angelandet bin und in welchem auch Wingman stationiert war. Zudem warten wir noch auf die Karawane von "Perlmutter" die sich aus Richtung Westen nähern wollte. Möglicherweise stecken sie in Schwierigkeiten, es kann aber auch sein, dass "Mom Perlmutter" sich entschlossen hat, die Siedlung zu meiden oder sich den Plünderern anzuschließen. In dem Fall müssen wir mit Gewalt gegen sie vorgehen."
Er blinzelte noch einmal in Richtung des Lichtreflexes und konnte spüren, wie Haile neben ihm zappelte, sie hatte so etwas wie einen Jagdinstinkt. Und sie hasste lange Unterredungen.
"Und dann gibt es da noch eine Sache: Jemand hat die Munition aus der Waffenkammer gestohlen. Es ist nicht auszuschließen, dass wir unter uns Personen haben, die nicht zu sein scheinen was sie sind."
Er blickte "seine" besondere Einsatzgruppe an und wünschte sich nichts mehr als sich anschließen zu können. Sie gehen lassen zu müssen zehrte schwer an ihm. Doch noch hatte er einige Tage mit ihnen und er wollte und würde keinen Fehler der Vergangenheit wiederholen. "Ach ja, man hat ein Fest für euren Abschied geplant.", zwinkerte er in die Runde. "Diese Menschen brauchen Hoffnung, an die sie sich klammern können. Dieses Fest ist ihre Art, euch Danke zu sagen."
Er atmete aus und strich behutsam, fast zärtlich über die Karte. "Ich habe schon viel von euch verlangt. Aber euch gehört mein Vertrauen. Was es hier zu tun gibt, muss durch euch erledigt werden."
Und dann plötzlich, zum ersten Mal, grinste Wingman, als er eine kleine Schatulle mit Nägeln aus seiner Flakjacke heraus holte, die mit verschiedenen Flaggen verziert waren, die Farbtöne zeigten.
"So kann ich abstecken, wer sich um was kümmert.", sagte der ehemalige Pilot, während Sheng in die Gruppe lächelte.