Sie lehnte an der Fassade des Pubs, den sie für eine ganze Weile nicht sehen würde. Vielleicht nie wieder? Die Siedlung gab sich Mühe, die Festlichkeiten so pathetisch zu gestalten, dass Eryn tatsächlich Zweifel aufkamen. Zweifel daran, ob sie jemals wieder heil nach Sheng's Hope zurückkehren würde. Ob sie überhaupt jemals heil irgendwohin kommen würde.
Ihre Füße schmerzten noch immer. Doch Ben und selbst der ihr verfallene Morris würden nun Besseres zu tun haben als sich diesen zu widmen. Jeder hatte etwas Besseres zu tun, nahm Abschied von seinen Liebsten oder verstrickte sich flüchtend in Gedanken an das bevorstehende Abenteuer. Doch sie konnte das nicht. Sie konnte nicht erahnen wie ein Abenteuer aussehen würde. Sie kannte das Abenteuer nicht, fühlte sich jetzt als hätte sie ihr ganzes Leben wohl behütet in dieser Siedlung verbracht. Wohl wissend, dass das nicht stimmte, konnte sie sich von diesem Gedanken doch nicht trennen. Wie von zig anderen Gedanken, die neben ihren Füßen auch ihren Kopf mit schmerzendem Druck belasteten. Sie musste etwas tun. Irgendetwas. Etwas, das nach Feierlichkeit aussah und ihr den Kopf reinigen würde.
Ihr Blick fiel auf die flackernden Lichter der Fackeln, die sie erst verschwommen wahrnahm, nach einem Blinzeln jedoch klar. Der Nachtwind ließ sie das Feuer leicht tanzen.
Sie setzte die Füße in Bewegung. Die ersten Schritte stachen, doch mit jedem wurde es besser. Ihr Ziel waren zwei der Fackeln am Rande des Marktplatzes. Vorsichtig nahm sie diese raus, als sie von der Seite die Stimme ihres Kollegen hörte. "Das erweckt meine Familie auch nicht von den Toten." Scheinbar war sie nicht als Einzige einsam. Doch auch war sie nun nicht in der Lage, einem einzelnen Gesellschaft zu leisten. Ihr Vorhaben war ein anderes. Sie trug die Fackeln weiter zur Mitte, suchte sich einen unbesetzten und doch präsenten Platz und schlug sie dort in den Boden, wenige Meter voneinander entfernt, sich damit eine Bühne bastelnd. Und dann sah sie sich noch mal um. So viele Menschen. So ausgelassen zum Teil ihre Stimmung. Ein Stimmwirrwarr drang in ihre Ohren. Von kritisch Debattierenden. Von Betrunkenen. Von sorgenvoll Liebenden. Von freudig Erregten. Liebend gerne hätte sie diese Geräusche eingetauscht gegen die schrägen Töne von Derrecks Mundharmonika. Doch Derreck war gegangen, und keine Musik begleitete ihren folgenden Tanz.
Noch hatte sie nur die Aufmerksamkeit weniger Augenpaare. Doch sie würde mehr gewinnen - das nahm sich die Bardame fest vor. Warum sie es tat, konnte sie selbst nur eingrenzen. War ihr nach Bewunderung? Wollte sie gesehen werden, fasziniert beäugt? Lag ihr doch etwas an diesen Menschen? War es ein "Danke", ein Geschenk zum Abschied? War dieser Tanz für Derreck bestimmt, der in undefinierbarer Ferne sein musste, nur unter Umständen noch lebte? Oder war es alles nur für sie, konnte Eryn sich auch jetzt nicht lösen von den Fesseln der Selbstsucht, die ihr Leben in den letzten Tagen dominiert hatten?
Ein Windstoß setzte die Flamme zu ihrer Rechten in Bewegung. Ihr Zeichen. Den linken, mit schwarzem Stoff umfassten Fuß über den rechten legend, eine Drehung ihres ganzen Körpers folgen lassend, begann sie. Keiner der Älteren würde ihr Bewegen zuordnen können. Ihre eigene Gewandtheit hatte sie gelehrt, dazu das Beobachten so vieler Fremder. Es war nicht höfisch, nicht klassisch, und doch beides. Einflüsse aus aller Herren Länder fanden sich in ihrem Tanz zusammen, bildeten ein Ganzes, das sie niemandem je gezeigt hatte. Und jetzt zeigte sie es allen, verwandelte ihre Schuld in Schwung, ihren Frust in Energie und setzte ihre schmerzenden Füße noch mehr unter Druck, die für andere leicht wirken mussten. Als würde sie das Gegenteil dessen zeigen, was sie umgab. Als würde sie die Feiernden glauben lassen wollen, ihr Gewissen wäre rein.
Du bist ein Spielzeug, das die Götter einsetzen, um die Glücklosen dieser Erde zu strafen.
Das Kleid flog durch die Luft, entfernte sich gar einen halben Meter vom Boden, als der Schwung es mitnahm. Doch wieder fanden ihre Füße Halt, federleicht und punktgenau, wo sie Halt finden sollten. Je mehr die Erinnerung an das was war sie einholte, desto ausgelassener wurde ihr Tanz, desto schwungvoller ihre Bewegungen, graziler die Übergänge. Ihr Kopf warf sich elegant in den Nacken - eine anmutige Geste. Und ideal, um Derrecks Worte aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihr größter Feind war ihr Geist, der Verbündete ihr Körper. Wie Blutkörperchen das Bakterium jagten ihre fragilen und doch energischen Bewegungen die schlimmen Gedanken, trieben sie mit der Exaktheit einer scharfen Klinge und der Hitze der nebst ihr brennenden Fackeln aus der Siedlung in ihrem Kopf. So kurz er war, so sehr genoss sie den kommenden Moment. Einen Moment der bedingungslosen Gedankenfreiheit. Alles war weg. Nur das Gefühl von einwandfreiem Nichts.
Sie achtete nicht auf die anderen. Sie stand so präsent - so öffentlich - es nur ging, und doch war sie allein mit sich. Die Stimmen wurden leiser, doch ob sie nur für die Tänzerin mehr in den Hintergrund traten oder tatsächlich verblassten war ein Rätsel, dessen Lösung sie nicht kennen musste. Sie war für sich. Nur der Wind bestimmte ihre Bewegungen, nur das Knistern des Feuers war ihr Dirigent. Arme und Beine warf sie hoch, in der Ästhetik eines gymnastischen Naturtalents. Sauber und fein verdrängten ihre Füße nur mehr kalte Nachtluft, deren eisige Wirkung auf ihre Haut ebenso nachließ. Die Nähe der Flammen, die Blicke, die sie wusste, hiermit gewinnen zu können, die Energie ihrer Bewegung - diese Dinge wärmten die zart geröteten Wangen, den Rest ihrer Haut und auch ihr belastetes Herz.
Und als der Schmerz vergessen war, nahm sie die letzte Kraft zusammen, drückte ihre Zehen durch wie einst die aufopfernsten Balletteusen und vollendete die physische Aufführung, die Kraft kostete und doch mehr Kraft gab, mit vielen kleinen Schritten, um am Ende diesen einen großen Schritt, fast Sprung, folgen zu lassen, der sie symmetrisch in die Mitte der beiden lodernden Flammen trieb, wo sie eine letzte tänzerische Verbeugung andeutete, die sie von der in Kauf genommenen Bürde des enthemmten und doch feinen Tanzes erlösen sollte.