-
Ehrengarde
Wenn die lieben Mädchen aus der Nachbarschaft zu kleinen Monstern wurden...
Nie hätte Leocadia gedacht, dass dieser Satz so wörtlich genommen werden könnte. Zwar war sie schon zuvor auf Vermoderte getroffen, die vor der Wandlung Kinder waren- das waren mit Abstand die Zombiebegegnungen, auf die die junge Frau absolut nicht scharf war. Jedes Mal trieb sie ein solches Aufeinandertreffen an den Rand des Todes, da etwas in ihr sich unnötigerweise viel zu viele Gedanken um diese Gestalten machte.
Sollte sie sie bemitleiden oder beneiden? Natürlich war die Wandlung zum Untoten und das darauffolgende „Dasein“ unglaublich grausam. Doch wusste Léo aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass weitaus schlimmere Schicksale für ein Kind in dieser Welt existierten, als zum Zombie zu werden. So fragte sie sich unwillkürlich jedes Mal, was das Kleine Ding erdulden musste, wenn es offensichtlich nach dem großen Zehren gebissen wurde. Oder sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers, ebenfalls ganz zu Beginn des Ausbruchs verwandelt worden zu sein, als die Welt nur aus Sonnenschein, Glück und ihrer tollen Familie bestand.
Gleich im Flughafen Sydneys gebissen worden zu sein, als sie sich wie die Königin der Welt wegen eines 100 Dollar-Scheines fühlte. Oder nein, noch besser auf dem Freizeitpark, kurz nachdem sie das Photo aus der Wildwasserbahn mit ihrem Papa und eine riesige Zuckerwatte in Händen hielt. Auf dem absoluten Glückshoch des noch völlig unschuldigen Lebens zu sterben- was gab es Besseres? Es waren die Momente, in denen das kleine, fröhliche Mädchen von einst laut aufschrie und ihr schmerzlich bewusst wurde, wie leer ihre jetzige Existenz eigentlich war und wie weit sie sich von der Léo entfernt hatte, die sie einst war und die sie hätten werden sollen.
Und nun hatte sie gleich neun wandelnde Mädchenleichen, denen genau das zuteil wurde, was sie sich ewig so gewünscht hatte und niemals bekommen könnte. Mädchen, die zum Zeitpunkt ihres Todes an Kuchen und Luftballons dachten und Tierärztin, Schwester oder Prinzessin werden wollten.
Wandelnde Mädchenleichen, die ihr auf einmal verdammt nah waren.
Instinktiv griff Leocadia nach ihrer Machete, doch ihre Hand umfasste nur modrige Luft. Panik wallte in ihr auf- wie konnte sie nur so dumm gewesen sein und ihren Lebensretter in so vielen Lagen einfach auf dem Regal liegen gelassen haben? So stieß sie das Mädchen beim Losrennen an, dessen einst sicher wunderschönen blonden Haare nur noch vereinzelt in schmutzigen Strähnen vom grauen Kopf hingen. Die Wucht stieß es um und beim Aufprall auf den harten Beton trennte sich das linke Bein wie ein zu lang gekochter Hühnerschenkel vom Körper. Doch das hinderte es nicht daran, sich mit den Händen hinter der verlockenden Beute entgegen zu ziehen.
Mit großen, hastigen Schritten, die nichts mehr mit der Eleganz einer Raubkatze zu tun hatten, stürmte Léo dem Spalt in die Sicherheit entgegen. Schon wollte sie zum Sprung ansetzen, um sich an der Tür hochzuziehen, als sie auf etwas unvermutet Glitschigem ausrutschte und der Länge nach stürzte. Leicht benommen brauchte sie einen Moment, um mit der Statusveränderung klar zu werden und blickte verwundert zu Boden. Sie war umgeben in einem kleinen See aus Zombieschleim garniert mit den Händen und Armen, die sie zuvor so vorsorglich abzutrennen wusste.
„iMerda! (Scheiße!)“
Ihre Mama würde sie umbringen, wenn sie sah, wie eingesaut eines ihrer Lieblingskleider nun war. Leocadia schüttelte sich kurz. Ihre Mutter hatte sie seit über 19 Jahren nicht mehr gesehen und war wahrscheinlich genauso tot wie ihr Papa. Sie war definitiv nicht sie selbst im Moment. Mühsam versuchte sie sich trotz der schmierigen Flüssigkeit um sich herum aufzurappeln, das gerade erbeutete Banjo am Rücken gewahr werdend, als sie einen festen Griff an ihrem Stiefel bemerkte. Das Diadembekrönte Mädchen hatte sie gepackt und blickte sie aus milchigen Augen gierig an. Ihre Gesichtszüge schienen denen von Léos 7jährigen Selbst verblüffend zu gleichen.
Das war zuviel. Während die Kleine ihre Zähne begierig in das Leder des Reitstiefels versenkte, quollen lang vergessene Tränen aus den Augen der 28jährigen. Es war wie ein Blick in den Spiegel. War das aus ihr geworden? Ein emotionskaltes Monstrum mit nicht zu vernachlässigendem Hunger nach Menschenfleisch?
Mit zitternder Hand umfasste sie den Griff des Banjos und holte aus. „Lo siento. (Es tut mir Leid)“
Der Schädel der kleinen Untoten zerbarst mit dem wohlbekannten zugleich knackenden und weichen Geräusch und der Körper fiel reglos in sich zusammen.
„Lo siento mucho. (Es tut mir so Leid)“
Einen Moment lang verharrte die Frau selbst, bebend auf die Überreste starrend, ehe sich ein Adrenalinschub durch ihren Körper pumpte und sie wieder in die Realität holte. Die erwachsenen Zombies hatten ihre kleinen Varianten eingeholt und wenn Léo sich nicht sofort aus dem Staub machte, würde sie als Hauptspeise enden.
Mit einem Satz war sie auf den Beinen, balancierte sich trotz des glibberigen Untergrundes grazil aus und bugsierte das Banjo galant durch den Spalt. Dann zog sie sich eilig an der Tür hoch und zwängte sich selbst durch die schmale Öffnung.
Armstümpfe klatschten wuchtig gegen ihre Schenkel, doch da ihnen die greifenden Enden fehlten, konnten sie ihre erhoffte Beute nicht zurückziehen.
Die liegen gelassene Machete wurde beim Abrollen vom Regal auf den Boden geworfen und suchte die Gesellschaft des Banjos und einer schwer atmenden Leocadia.
Das Hochgefühl verließ ihren Körper ebenso schnell, wie es gekommen war und abermals übermannten sie die Tränen. Wie lange sie schluchzend dalag konnte sie nicht sagen, es fühlte sich nach einer Ewigkeit an. Doch schließlich fiel ihr Blick auf das, weswegen sie diesen ganzen Mist auf sich genommen hatte. Das Banjo war mit Zombiehirn verschleimt, aber sonst noch intakt.
Léo musste an Clover denken, diese wundervolle Person, die wie eine zweite Mama für sie war als sie sie am dringendsten benötigt hatte. Sie hatte immer wundervolle Musik auf so einem kleinen Ding gemacht, dass diesem Ding vom Grundaufbau her nicht ganz unähnlich sah. Und man konnte es offensichtlich auch als Waffe gebrauchen. Multifunktionale Gegenstände waren immer gut in diesen Zeiten.
Langsam erhob sie sich, befestigte das Banjo an Álvaro, welchen sie schulterte und ergriff ihre Machete. Schon wollte sie sich zum Gehen umwenden, als ihr Blick auf das Ding warf, von dem sie sicher war, dass sie damit Feuer machen konnte. Sie schaute zur Tür, von der unbeirrtes Stöhnen und Scharren herüberhallte. Wenn sie die Bude hier abfackelte, würde das Gewehr im Raum wahrscheinlich ebenso zerstört werden und wer weiß, ob nicht Jemand anderes genauso bescheuert und mutig ist und es gebrauchen kann. So wandte sie sich ab und verließ den stinkenden Keller.
Léo trat gerade wieder in Freiheit, als sie die Sprachlose auf sie zukommen sah. Triefend vor Wasser und übersäht mit Kratzern hatte sie wohl ihr eigenes kleines Abenteuer erlebt.
"Du hattest anscheinend genauso viel Spaß gehabt wie ich. Hoffentlich hat es sich wenigstens auch gelohnt?"
Beiläufig wischte sie sich die letzte Träne weg, die vorwitzig von ihrer Wange rann.
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
-
Foren-Regeln