Evi fühlte sich wie im Rausch der Sinne. Sie hörte ihren gehetzten Atem, roch den Duft von labbrigen Algen, sah im Blitzen der Sonne eine Klinge...
Zum Abbremsen war es fast zu spät, deshalb änderte die Taucherin den Plan und verlagerte all ihr Gewicht nach hinten. Sie wollte sich absichtlich fallen lassen und mit dem Schwung vielleicht sogar noch den aus der Nähe furchteinflößenden Kultisten mitreißen, ohne seine Klinge jemals zu berühren. Doch sie hatte ihre Geschwindigkeit etwas überschätzt, weil der Boden hier trockener war, als noch Schritte zuvor. Also kam sie halb liegend direkt vor dem Mann zum Halten, der sie durch die groteske Maske ohne erkennbare Regung anstarrte. Langsam, als müsste er erst verarbeiten, was geschehen war, hob er nun seinen Hirtenstab und machte Anstalten, der Frau unter sich mit einem gezielten Schlag auf den Kopf ein Ende zu bescheren. Mit Leichtigkeit rollte Evi sich weg, sah aber Zentimeter von ihr entfernt, wie die Klinge mit solch einer Wucht in den Boden einschlug, dass die Erde spritzte, als wäre sie puffige Watte. Beflügelt durch leichte Angst, die bei dem Anblick in ihr aufstieg, trat die Taucherin nun mit voller Wucht gegen das Schienbein des Mannes. Doch wieder schien ihn dies nicht zu beeindrucken, und er verlor zwar kurzzeitig das Gleichgewicht, drehte sich schließlich aber in aller Ruhe in die Richtung seiner Gegnerin und hob erneut seine Waffe, die nun mehr an ein Henkersbeil, als an einen Stab erinnerte.
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Die Realisierung, dass es sich hier unmöglich um einen Menschen handeln konnte, sickerte schnell durch, eigentlich schon genau in dem Moment, als der Schuss den Kultist traf und alles andere als die erwünschte Wirkung zeigte. Kaum Blut, kein Anzeichen von Schmerz. Nicht einmal ein erschrockenes Zusammenzucken. Man hörte immer wieder davon, dass neue Arten von Untoten auftauchten, aber das hier...
"Fuck!", knurrte Andrea, nachdem die Kugel Ziel knapp verfehlt hatte, und zwang sich, ruhig auszuatmen, obwohl Adrenalin durch ihre Adern schoss und ihre Lungen danach schrien, immer schneller und immer mehr Luft einzusaugen.. Panik war in solchen Momenten der größte Feind. Ruhig bleiben. Schnell handeln, präzise. Sie konnte sehen, wie Evi von der anderen Seite angerannt kam und sich sichtlich bemühen musste, nicht aufgespießt zu werden. Dann geriet sie auch schon in den direkten Kampf mit dem Kultisten, der unbeeindruckt von ihren Schlägen weiter gegen sie kämpfte. Was unglücklicherweise auch verhinderte, dass Andrea aus ihrem Versteck heraus einen sauberen Schuss abfeuern konnte.
Fluchend, und so schnell es eben möglich war, kletterte sie durch die Fensteröffnung nach draußen. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde vom Geschehen abgelenkt, als ihr Hemdsärmel sich an einem scharfkantigen Rest der Fensterscheibe verfing. Erneut stieß sie einen leisen Fluch aus, und zerrte hektisch ihren Arm nach vorne, bis sie das leise Geräusch reißenden Stoffs hörte - und den Schmerz eines Schnittes spürte. Davon ließ sie sich jedoch nicht beirren, sie hatte genügend wertvolle Sekunden verloren. Vorwärts preschte sie, bis sie etwas seitlich hinter dem Kultisten zum Halt kam, der nun erneut seinen Stab hob und gegen Evi richtete.
Andrea verlor keine weitere Zeit, sie zückte erneut ihre Waffe. Ihre Hände zitterten nun doch leicht, ihr Atem ging schwer und sie war sich bewusst, dass durch einen kleinen Fehler ihre Verbündete getroffen werden könnte. Dass eine winzige Unachtsamkeit sie alle in ein frühes Grab befördern würde. Der Lauf der Pistole war auf den Kultisten gerichtet, als dieser seinen morbiden Stab auf die junge Taucherin niedersausen ließ. Zwei Kugeln, gleich hintereinder zerteilten die Luft und flogen auf den Gegner zu, aber noch ehe sie sehen konnte, wo sie einschlugen, wusste Andrea, dass sie ihr Ziel erneut verfehlt hatte...
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Zwei laute Schüsse preschten durch die Luft, und Evi zuckte vor Schreck zusammen, weil sie überraschend nahe abgefeuert worden waren. Im ersten Moment schien nichts passiert zu sein, aber dann folgte die Taucherin dem Blick der dunklen Maskenaugen, die auf den Boden gerichtet waren. Andrea hatte mit einer Kugel direkt den Arm des Kultisten getroffen - genauer gesagt das Handgelenk, und durch die Einwirkung hatte er seinen Stab fallen gelassen. Und als er sich, immer noch ohne jegliche Schmerzen, nach seiner kostbaren Waffe bücken wollte, trat Evi ihm so fest es ging mit beiden Beinen in die Brust, wodurch der Mann nach hinten in Richtung des Baumes geschleudert wurde. Fast hätte die Taucherin einen Blick auf den Jungen geworfen, der zum Glück bisher keinen Mucks von sich gegeben hatte, aber es war keine Zeit, sich jetzt um ihn zu kümmern
Sie stürzte sich wie ein Tier auf den Kultisten, war augenblicklich auf seinen Oberkörper gesprungen, um irgendwie an seinen Kopf zu gelangen. Das musste doch seine Schwachstelle sein. Also packte sie sein Haupt und versuchte in schierer Verzeiflung, es so hart wie möglich an den Boden zu schlagen - immer und immer wieder. Schwarze Tropfen aus Schlamm und Schweiß verteilten sich auf der goldenen Maske, die Evi beinahe hämisch anzustarren schien. Und dann merkte sie, wie sich der Körper unter ihren Beinen bewegte, bereit, sich jeden Moment wieder aufzubäumen.
"Andrea!!", brüllte Evi, als der Kultist sich mit schierer Leichtigkeit aufrichtete und die Taucherin nun unter sich zu begraben schien - eine Hand schlang sich kräftig um ihren Hals und drohte ihr die Luft abzuschnüren.
Nur schattenhaft registrierte Evi, dass jemand herbei eilte, während sie sich fragte, ob die Augen aus der Maske das letzte waren, was sie je sehen würde.
Aber Andrea hatte nun endlich eine Gelegenheit, ohne großes Risiko auf den Kultisten zu schießen. Als er nun mit stoischer Ruhe, als hätte er alle Zeit der Welt, die Taucherin würgte, legte sie die Waffe an seine Schläfe und drückte ohne ein weiteres Wort ab.
"Glaubst du, das wars?", fragte Evi besorgt, nachdem sie sich unter dem Körper des Mannes, der sich nun nicht mehr regte, hervorgekämpft hatte. "Oder steht er gleich wieder auf?" Andrea zuckte mit den Schultern und hob den Hirtenstab auf. "Wir sollten nicht bleiben, um es herauszufinden. Uns läuft die Zeit davon." Sie machte sich mit der Klinge an den Fesseln des Jungen zu schaffen, der nun leise vor sich hinwimmerte. Aber Evi starrte weiterhin auf den Kultisten. Irgendwie wollte sie schon wissen, was sich unter der gruseligen Maske verbarg. Und das Ding würde auch ein super Souvenir abgeben.