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Ritter
Eryn fühlte sich fantastisch. Sie war obenauf. Wem sonst gelang es, sich eine erstaunlich gute Massage geben zu lassen und dafür noch etwas zu bekommen? Wohl nur ihr. Was auch immer für Dunkelheiten sich in den letzten 24 Stunden in ihre Seele geschlichen hatten - man schien sie der Barfrau nicht anzumerken. Wäre die Welt so, wie sie sie kaum kennengelernt hat, würde sie wahrscheinlich eine verdammt gute Schauspielerin sein, die die Männer vor den Bildschirmen zusätzlich die Köpfe verdrehte. Das weibliche Pendant zu den einst berühmten Männern, von denen ihre Mutter immer geschwärmt hatte: George Klinsey, Richmond Gere und Hugh Jackman, oder wie sie nicht alle geheißen haben. Wahrscheinlich waren das nun noch ältere Männer. Oder sie waren den Umständen zum Opfer gefallen. Oder einfach an Altersschwäche verreckt.
Doch das sollte die 25-Jährige nicht stören. Sie war in der Blüte ihres Lebens und würde noch viele Jahre die Bewunderung der Personen um sie genießen können, bis sie selbst irgendwann ergraute. Vielleicht stünde ihr dann ein Leben als Köchin bevor - das war schließlich auch eines ihrer Talente. Oder sie würde selbst die Bar übernehmen. Oder irgendeine andere Bar dieser Welt. Wer wusste es schon? Vielleicht würde die Erde ja bald tatsächlich wieder aussehen wie vor langer Zeit; durch ihre Mithilfe.
In einem - den Umständen entflohenen - Anfall von Optimismus und Tatendrang, nahm sich Eryn vor, ihr letztes Problem in den Griff zu bekommen. Derreck musste irgendwo sein. Das letzte Mal als sie ihn gesehen hatte, war sein Blick ihr gegenüber fast angewidert, hatte sie dem jungen Raoul doch mindestens die Nase gebrochen. Die aufkeimende Schuld schluckte die Femme Fatale herunter, bevor sie ihr die Laune vermiesen konnte.
Sie warf einen Blick in Richtung Leuchtturm. Ihr Chef hatte sich in stillen Momenten gerne dort aufgehalten, doch nun herrschte auch dort reges Treiben. Frank und Doc Strider schienen das Bauwerk zu bevölkern, und auch Stutton war da ja noch. In Gedanken ging sie die Orte durch, die der Gründer des Pubs sonst aufgesucht hatte, wenn ihm nicht nach Gesellschaft gewesen ist. Da kamen ihr die Baffin Hills in den Sinn. Es gab dort eine kleine Steinformation vor der Felsenge, in die man besser keinen Fuß setzte, wenn sie nicht durch regelmäßige Patrouillen abgesichert wurde.
So sattelte Eryn ihren Rucksack, den Anschein machend, Sheng's Hope wieder für etwas wie den Orchard-Handel verlassen zu wollen. Dieses Mal sollte ihr Weg sie in Richtung Südosten führen. Trotz aller zwielichtigen Sicherheiten war sie vorsichtig, bewegte sich nur zu gerne langsam und zwischen Felsen. Einsam und allein wäre sie unvorsichtig ein zu gutes Opfer für einen Überfall oder Schlimmeres. Ol' Cletus und seine Jungs waren furchtbar genug, jedoch noch lange nicht das Maß aller boshaften Dinge in der Gegend. In diesem Wissen schlich die 25-Jährige sich im Schutze der Schatten werfenden Naturgebilde und ihrer tänzerischen Gewandtheit vor, bis sie die erwartete Steinformation erblickte, die skurril genau das Bild eines Halbmondes traf. Schon von Weitem sah sie ein Bein auf einer Seite herunterhängen, in dreckigen Lumpen gehüllt, die lange keine Wäscherei mehr von innen gesehen hatten. Es konnte nur Derreck gehören.
Und tatsächlich - als sie näher kam, sah sie seinen krummen Körper dort eingefallen im steinernen Mond sitzen, hörte die traurigen, schrägen Klänge seiner alten, von Rost zerfressenen Mundharmonika, die er in all den Jahren nie zu beherrschen gelernt hatte. Sie trat näher, vorsichtig, um den Mann nicht aufzuschrecken, den die letzten Wochen sicher schreckhaft gemacht haben. Und dann räusperte sie sich. Einerseits, um sich anzukündigen und andererseits, um den trockenen Staub und Sand, der in der Luft lag, aus ihrer Kehle zu befördern. "Derreck?, bat sie dann mit sanfter Stimme um seine Aufmerksamkeit. "Derreck, ich muss mit dir reden!" Sie gab sich ernst - angemessen ernst. Seine Musik verstummte, er sah sie an. In seiner Miene lag Leid, Kummer, doch auch Sehnsucht und ein kurzes, wenngleich bitteres Lächeln, als er ihr in die Augen und auf die Lippen blickte. "Eryn!", stellte er lethargisch fest.
Die Angestellte trat näher an ihren Chef heran. Sie setzte sich neben seine Füße, die er bewusst etwas zurückzog, zuvor noch kurz den Dreck mit den Sohlen wegwischend, ohne wirklichen Erfolg. "Derreck, Sheng weiß, was passiert ist!", sagte sie dann ernst und sah ihn an. "Irgendwie muss er es mitgekriegt haben... er ließ mich abfangen, als ich von den Orchards zurückkam." Sie konnte den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Chefs nicht klar definieren, doch eine fragende Tendenz lag allemal darin. Wahrscheinlich verstand er nicht, warum sie hier war. Er musste glauben, dass sie vor einer Festnahme geflüchtet war. Doch Eryn ließ mögliche Fragen nicht lange offen. "Ich habe ihm gesagt, dass du es alleine gemacht hast", gestand sie und setzte sofort einen entschuldigenden Gesichtsausdruck auf. Ein Moment von echter Scham war ihrem Gesicht abzulesen. "Es tut mir Leid, ich bin soo feige!", schüttelte sie den Kopf. "Du hingst komplett drin, ich habe nur meinen eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen können. Glaub mir, ich hätte dich gerettet, wie du mich gerettet hast, aber dafür wusste er zu viel." Sie sah beschämt zur Seite. "Ich habe gesagt, dass du den Jungen mit der Pfanne geschlagen hast, bevor ich reagieren konnte. Dass du dann abgehauen bist und ich nicht wusste, was ich tun soll." Sie ließ eine kurze, bedeutsame Pause folgen, die ausdrücken sollte, dass sie sich selbst verabscheute. Das tat sie nicht wirklich, doch zumindest empfand sie etwas Reue. "Aber Sheng versteht dich, Derreck. Er findet es genau so ehrenhaft wie ich es finde. Er sagt, dass ich daran denken soll, dass du es aus Liebe zu mir getan hast - und das tue ich." Das tat sie wirklich. Und es verwirrte sie zutiefst. "Aber er sagte auch, dass er nicht umher kommen wird, dich für deine Tat zu bestrafen", schloss sie schließlich ab und sah ihm in die kümmerlichen Augen, seine Reaktion abwartend. Sie war ehrlich zu ihm, spielte kein doppeltes Spiel, sondern gestand ihre Fehler. Das war mehr Geste als jeder andere von ihr zuletzt erfahren hatte.
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