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Ritter
Eryn war fertig. Nicht nur hatte sie den bevorstehenden Tod des armen Jungen billigend in Kauf genommen, um ihre Haut zu retten - sie hatte ihn dabei unnötig verletzt, weil sie etwas tat, das ihr nicht lag. Sie hatte ihn unnötig gequält und konnte sich selbst nicht mehr besänftigen. Die Wut brannte in ihr. Wut darüber, dass Derreck sie in diese Situation brachte. Wut darüber, dass sie diese Entscheidung getroffen hatte. Schlimmer: Sie war sich nicht mal sicher, ob sie etwas anders machen würde, hätte sie erneut die Chance, zu entscheiden. Es war wie das Ziehen eines Milchzahns, das man als Kind so lange für eine Belanglosigkeit hielt, bis man kurz davor war und nicht mehr wollte. Der Verlust eines Zahns war die älteste bewusste Erinnerung, die die Barfrau noch hatte. Und die Reue, Schuld an Raouls Tod zu sein, die frischste. Und er hatte jetzt schon mehr verloren als einen Zahn.
Sie ließ alles zurück, die blutige Pfanne, das leicht verwüstete Büro ihres Chefs. Sie wollte nur noch alleine sein. Auch durch den Barbereich - indem sich immer noch Leute unterhalten hatten - lief sie mit Tunnelblick, um bloß nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Sicher hatte sie nie so übel ausgesehen.
Draußen folgte sie dem Pfad, fing beinahe panisch an, schneller zu laufen, um niemandem mehr begegnen zu müssen. Ihre Kehle fühlte sich seltsam trocken an, die warmen Tränen stachen auf der Haut und der kalte Nachtwind ließ das frische und doch schon beschmutzte Kleid im Wind zappeln. Wieder zitterten ihre Beine, doch trugen sie die 25-Jährige gerade noch in ihre Unterkunft.
Dort legte sie sich hin. Der Untergrund kam ihr härter vor als sonst. Schlaf fand sie nicht, doch selbst wenn, wäre sie nicht viel später von den Ereignissen und Shengs Stimme geweckt worden. Sie verließ ihr Zelt nicht, doch die Worte ließen sie aufhorchen, rissen sie wenigstens etwas aus den fürchterlichen Gedanken. Heilmittel, wiederholte sie still und dachte nach. Es war eine schlimme Ironie des Schicksals, die sofortige Strafe, die sie ereilen musste. Sie hatte gerade das Leben eines Jungen in schierer Arroganz und in purem Egoismus für beendet erklärt, um nicht Angst vor den Schergen von Floyd-Williams haben zu müssen. Und genau jetzt sollte etwas passieren, auf das man seit 20 Jahren wartete. Etwas, das ihr die Chance geben würde, zu fliehen - ob mit oder ohne Derreck. Hätte sie das gewusst, hätte sie die richtige Entscheidung getroffen. Hätte ich?
Es war zu spät. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Chef besser war als sie, dass er wirklich einknickte, wie sie es vermutet hatte. Eryn konnte nur darauf hoffen, dass er sie vor der schlimmsten Entscheidung ihres Lebens retten würde. Vor der Dunkelheit. Sie nahm sich vor, Schlaf zu finden. Morgen würde sie mehr wissen. Morgen würde sie erfahren, was mit dem Jungen passiert war, ob Derreck sich an das Herz erinnerte, das er hatte, während es ihr zu fehlen schien. Und dann würde sie wissen, ob sie es noch länger hier aushalten könnte. Sie hatte oft über das Leben in dieser Siedlung gemeckert, während sie es doch eigentlich liebte. Doch diese Nacht war die erste, in der sie mit der Gewissheit schlafen ging, genug von Sheng's Hope zu haben. Oder zumindest genug von ihrer Rolle hier. Genug von sich.
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