Es war schwer, die Erinnerungen zurück zu drängen. Sie wusste, tief im Inneren, dass ihre Probleme, ihre Gedanken, ihr Dasein im Allgemeinen nichts weiter war als ihre eigene Kreation. Sie würde es niemals in derartigen Worten ausdrücken, aber es war ihr bewusst: sie war ein Wrack. Ein gottverdammtes, dem Tode nur knapp entkommenes Wrack.

"Meine Güte, siehst du scheiße aus...", murmelte sie ihrem Spiegelbild entgegen. Sie verließ nur ungern die Sicherheit ihrer Hütte. Draußen waren haufenweise Leute, die sie nicht kannte und nicht kennen lernen wollte. Wahrscheinlich wussten diese Menschen nicht einmal, dass Lexi existierte. Aber das war okay. Sie würde sich selbst auch nicht kennen wollen, so wie Unglück und Tod sie überallhin verfolgte. Egal wo, egal wer, egal wie gut die Lage auszusehen schien - Leute gingen drauf in ihrer Gegenwart. Seien es ihre Kumpanen, mit denen sie sich professionell auf Zombiejagd begeben hatte bevor diese komische Frau im Anzug sie erschossen hatte, oder sei es dieses Piratencamp.

Sie konnte sich selbst nicht vergeben. Sie war mittlerweile in einem Alter, in dem man sich nicht mehr bemühen musste, seine eigenen Fehler großartig zu analysieren. Das Einzige, was im Moment zählte, war dass sie hier war. Hier, in diesem beschissenen Bungalow umgeben von noch mehr beschissenen Bungalows. Als wäre das hier 'ne bekackte Favela-Siedlung in Südamerika. Und da war noch Sheng. Sheng, den sie vielleicht liebte. Oder auch nicht. Es war nur eine kurze, knackige Sache zwischen den beiden. Aber sie war weniger darauf aufgebaut, dass sie irgendwelche Gefühle füreinander hegten. Es war mehr eine Sache von "Ich bin allein, du bist allein, also: wieso nicht?". Sex half, aber es war kein Substitut für irgendeine Art von Erlösung oder Kummerbewältigung. Es war nur...

Es war nur ein Bliepen auf dem EKG. Eine kurze Aufwärtskurve in einer flachen Linie, die nun Lexi Miller war. Lexi "Zwei Pistolen und eine Shotgun" Miller. Lexi "Ich reise meinem Bruder hinterher" Miller. Lexi "Meine Güte, wo kommen all diese Falten in meinem Gesicht her?!" Miller. Sie wünschte sich so sehr, dass es mit Sheng geklappt hätte, aber die Chance war schon lange breit grinsend und freundlich winkend vorbeigezogen. Sie war alt, sie war mittellos, nur mit einer blöden Machete bewaffnet inmitten eines ekelerregenden, endlos wirkenden Chaos, das einfach kein Ende zu haben schien.

Doch da war jetzt etwas. Ein funkelnder, kurzer Gedanke, der durch ihren Kopf schoss. Er hatte mit der Bar zu tun. Sie wollte nicht raus, sie wollte niemanden sehen - aber sie wollte jetzt, in diesem Augenblick, was trinken. Oder wenigstens die Illusion was zu trinken. Sie musterte sich kurz im vergilbten Kosmetikspiegel, den sie provisorisch mit Panzertape an die Wand geheftet hatte, schüttelte den Kopf und warf sich den Poncho über,mder sie schon seit ettlichen Jahren als ihre Standardbekleidung begleitete. Sie zog sich die Army-Kappe tief ins Gesicht und trat Das erste Mal seit bestimmt einer Woche vor die Tür. Einen kurzen Fußweg später gelangte sie in die Bar. Die Hütte war voll. Zu voll. Oh Gott, soviele Leute. Und der Erste, der sie anblickte war...

"H-Hi, Sheng.", murmelte sie, fügte noch ein verhaltenes "Hey." in die Runde und sah sich mit sichtlich verkrampfter Körperhaltung um. Blicke trafen sie wie Millionen kleiner Glassplitter. Anscheinend hatte sie einen peinlichen Moment erwischt, um rauszugehen. Fuck.